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Reinhart Behr
Die gesellschaftliche Verantwortung des Schriftstellers
- aus der Sicht von Bertolt Brecht und Kaj Munk
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Es sind zunächst äußere Gründe, welche es mir nahegelegen
sein ließen, Brecht und den in Deutschland praktisch unbekannten
dänischen Schriftsteller Kaj Munk einander gegenüberzustellen. Der
erste Grund ist ein zeitlicher: Beide wären 1998 hundert Jahre alt
geworden und wurden daher von ihren Anhängern gebührend gefeiert. Der
zweite Grund ist geographischer Natur: Brecht wohnte von 1933 bis 1938 im
dänischen Svendborg, wohin er aus Hitler-Deutschland geflüchtet war.
Munk hielt in jener Zeit in der Sporthochschule von Ollerup (ganz in der
Nähe) eine aufsehenerregende politische Rede. Gesehen haben beide sich
jedoch nicht. Sie hätten sich wohl auch nichts zu sagen gewußt, weil
sie geradezu gegensätzliche Charaktere mit absolut unterschiedlichen
Weltanschauungen gewesen sein dürften.
Und damit bin ich bei dem Hauptgrund, der mich veranlaßt hat,
mich vergleichend mit diesen beiden Autoren zu beschäftigen: Beide
verkörpern in der Frage, wie ihrer Auffassung gemäß ein
Schriftsteller seine Aufgabe sehen sollte, diametral entgegengesetzte
Positionen, welche ich im folgenden vorstellen will.
Kaj Munk - kein normaler dänischer Landpfarrer
Munk lebte als Landpfarrer an der jütländischen Westküste und
wurde in den dreißiger Jahren zunehmend bekannt durch Theaterstücke
und Gedichte, die seine christliche Weltanschauung verrieten. Seine zahlreichen
Reden, zumeist an Volkshochschulen(1) gehalten, wandten sich vor allem an die
dä
nische Jugend. Munk richtete oft mit wenig Resonanz leidenschaftliche Appelle
an seine jungen Zuhörer. Diese sollten, statt die Wochenenden mit
"seichten" Tanzvergnügen zu verbringen, sich in Turn- und
Schützenvereinen zum Zwecke der Wehrbereitschaft für das Vaterland
"stählen". Sie sollten Wertbegriffe wie Glaube, Familie und Nation achten
und hüten. Der Staat brauche statt des Parlamentarismus eine starke
Führerpersönlichkeit, respektiert, weil sie Verantwortung zu tragen
bereit sei. Mussolini, z.T. auch Hitler, seien hierin Vorbild. Zweifellos war
Munk politisch naiv. War dies nicht sogar Voraussetzung für seine
Konsequenz? Er war erschüttert über die Weise, mit der Hitler die
Juden behandelte. Er schrieb an Mussolini in der Hoffnung, daß dieser
Hitlers Rassenpolitik entgegenwirken würde, natürlich ohne Resultat.
Als 1940 Dänemark praktisch kampflos den deutschen Truppen übergeben
wurde, schlug Munks Respekt für die faschistischen Führer in bittere
Enttäuschung um. Maßlos empörte ihn das, wie er meinte,
würdelose Verhalten der dänischen Regierung. Er setzte unter der
Besatzung seine Vortragstätigkeit fort. Unermüdlich rief er nun
direkt zu aktivem Widerstand gegen die Besatzer auf. 1944 wurde Munk auf
direkte Weisung Hitlers von Gestapo-Leuten aus seiner Familie gerissen und in
einem Wald hinterrücks erschossen.
Munk ist in Dänemark respektiert und geschätzt, er wird
aufgeführt und gefeiert. Der Grund hierfür ist offenbar das
Bedürfnis, sich im nachhinein mit ihm zu identifizieren, mit dem Symbol
eines mutigen Patrioten. Er kann jenen Nationen vorgezeigt werden, die Hitler
bekämpft und Dänemark die allzu lange Zusammenarbeit mit dem
Naziregime vorgeworfen hatten.
Hier Bertolt Brecht - dort Kaj Munk
Auf diese Fakten gestützt, ist nun ein thesenhafter Vergleich mit Brecht,
dessen Ansichten und Lebensumstände weitgehend bekannt sein dürften,
eher nachvollziehbar. Die äußere Erscheinung läßt schon
den Gegensatz erkennen:
Hier steht Brecht, in Proletarierkluft, in "schlechter" Haltung, verlegen den
Blick zu Boden richtend. Dort sehen wir Munk, straff, in schwarzem Anzug, den
Blick intensiv auf den Zuhörer gerichtet.
Hier ist der Atheist, dort der überzeugte Christ.
Hier der Internationalist, dort der glühende Patriot.
Hier der Gegner aller überlieferten Autoritäten, von denen sich die
Massen befreien sollen. Dort der Mann, der eine straff geordnete Gesellschaft
mit der Familie als Kernelement wünscht.
Hier der Zyniker, Skeptiker, selbst Freunden gegenüber. Dort der naiv
Vertrauende gegenüber Gott und der starken Führerpersönlichkeit,
aber auch Freunden gegenüber.
Hier der Taktiker, der "Anti-Held", der die Gesellschaft verachtet, die meint
Helden zu benötigen. Dort der Idealist, bereit ist, für seine Ideale
zu kämpfen.
Munk läßt an Sören Kierkegaard denken. Dieser
verachtete auch jeden Kompromiß, forderte leidenschaftlich Entweder -
Oder(2). Munk war wie der Philosoph bereit, für seine Überzeugung
Opfer zu bringen. ja er suchte geradezu die Möglichkeit zu einem solchen
Opfer. Die Konsequenz erfuhr er wie beschrieben. Dagegen war der Marxist Brecht
ein scharfsinniger Analytiker, der schon früh absehen konnte, in welcher
Richtung sich Deutschland entwickeln würde. Er war fähig zu
taktischem Verhalten, das ihm womöglich sein Leben rettete, zumindest
immer seine Chancen erkennen ließ. Ein Rollbild eines chinesischen
Weisen, des Zweiflers, begleitete Brecht überall in der Emigration. Es
hing auch in seinem Svendborger Haus.
Brecht reflektierte jedoch das Gefährliche des rein
analytischen Vorgehens. Denn bedeutet nicht, alles zu erklären, auch alles
zu akzeptieren? Ist der Analytiker, der Zweifler, überhaupt fähig zu
handeln? Brecht brachte dies in seinem Gedicht über den Zweifler zum
Ausdruck, in dem es heißt:
"Da sind die Unbedenklichen, die niemals zweifeln.
Die Unbedenklichen begegnen den Bedenklichen,
die niemals handeln. Falsch mag handeln, der sich mit
zu wenigen Gründen begnügt.
Aber untätig bleibt in der Gefahr, wer zu viele braucht."(3)
Kannte Munk solche Überlegungen? Verhielt er sich taktisch? Konnte er die
dänischen Politiker respektieren, die zwar gegen Hitlers Deutschland
waren, aber die Zusammenarbeit als das beste für Dänemark ansahen?
Dreimal Nein. Er - ein Pfarrer! - nannte die dänischen Staatsmänner
"jämmerliche Arschlecker" und schrieb:
"Das verrottete dänische Volk. Das man geliebt hat! Und das nun
bereitwillig das Erbrochene der Deutschen frißt. Ich ersehne die
Kugel! "(4)
Gemeinsam war Brecht und Munk die Verachtung des Parlamentarismus, aber aus
verschiedenen Gründen: Für Brecht konnte das parlamentarische System
nur im Interesse einer Klasse wirken, der besitzenden. Munk hingegen hielt
dieses System grundsätzlich für nicht handlungsfähig, weil alle
die Verantwortung trügen und damit übernahm sie seiner Meinung nach
niemand. Nur ein Führer sei daher geeignet, Verantwortung zu
übernehmen. Gemeinsam war beiden auch, daß sie Hitler nicht hassen
konnten, wiederum aus ganz verschiedenen Gründen: Brecht meinte, Hitlers
Entwicklung und zunehmenden Erfolg durch seine marxistische Sicht auf die
Geschichte erklären zu können. Für Munk hatte nur Gott das Recht
zu urteilen.
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Dramenvergleich: Munks Ordet - Brechts Leben des Galilei
Brecht und Munk waren zwar beide um Brechts Terminologie zu verwenden
Stückeschreiber, aber auch darin sehr verschieden. Brecht wollte mit
seiner Verfremdungstheorie erreichen, daß der Zuschauer sich nicht von
seinen Gefühlen mitreißen läßt, sondern den Zusammenhang
im Gezeigten analysiert, um selbst handlungsfähig zu sein. Munk hingegen
wollte mit seinen Theaterstücken ein Licht im Zuschauer anzünden, ein
Licht, das nicht Resultat einer Erkenntnis, sondern unmittelbar erfahrbar sei.
Ich will das an zwei Beispielen näher erläutern:
Munk beschreibt im Drama Ordet (5) (Das Wort), das heute noch immer
aufgeführt wird, eine Familie, die sich um die gerade verstorbene Mutter
schart. Der Vater, ein Pfarrer, hat einen Bruder, der zunächst nur im
Hintergrund bemerkbar ist. Er gilt als wunderlich, weil er meint Jesus zu sein.
Das jüngste Kind wendet sich eindringlich an diesen: Wenn er wirklich
Jesus sei, müsse er durch ein Wort die Mutter wieder zum Leben wecken
können. Dieser spricht das Wort, und die Mutter erwacht. Tief bewegt soll
der Zuschauer zurückbleiben, gerade wegen des jeder Vernunft baren
Schlusses. Munk wurde von Theologen deswegen heftig kritisiert, die sich stets
bemühten, eine Verbindung zwischen christlichem Glauben und Vernunft
herzustellen. Widerspräche die Figur des wunderlichen Bruders nicht dem
Glauben an die Einzigartigkeit von Jesus? Munk ließ sich hierdurch nicht
beirren. Sein Ziel war, im Zuschauer das Gefühl zu wecken, daß dem
Menschen Hilfe nur von "außerhalb" zuwachsen könne. Wieder wird man
an Kierkegaard erinnert. Auch dieser meinte im Gegensatz zum theologischen
Kanon, an Christus zu glauben sei nur möglich, weil dieser Glaube der
Vernunft unzugänglich ist.
Brecht schrieb das Leben des Galilei(6) in Svendborg:
Vorausgegangen waren gründliche Studien der Persönlichkeit Galileis
und der Astronomie seiner Zeit. Galilei hatte das Kopernikanische Weltbild
vertreten, nach dem die Erde nicht der Mittelpunkt des Weltalls sei, sondern um
die Sonne kreise. Vor dem Inquisitionsgericht der katholischen Kirche
distanzierte sich Galilei unter Androhung der Tortur von seiner Position. Er
beugte sich der Macht, denn er war überzeugt, daß sich die
Kopernikanische Erkenntnis schließlich ohnehin als die richtige
durchsetzen werde. Ein Märtyrertod erschien ihm unnötig,
außerdem liebte er das Leben und war besessen von Physik und Forschung,
mit deren Hilfe er den wissenschaftlichen Fortschritt zur Not auch im Geheimen
vorantreiben wollte.
Damit verriet Galilei so Brecht die arbeitende Klasse Italiens.
Denn die Autorität der katholischen Kirche und der sie stützenden
weltlichen Kräfte wäre in den Augen des Volkes ins Wanken geraten,
wenn ihr Anspruch auf den Besitz der alleinigen Wahrheit bestritten worden
wäre. Brecht überbewertete hier wohl die gesellschaftliche Bedeutung
des Streites. Für den einfachen Menschen war die inzwischen ja bereits
offiziell akzeptierte Erkenntnis, daß die Erde eine Kugel sei, sicher
umwälzender als die Frage, ob sie sich bewege oder nicht.(7)
Trotz der Kritik an Galilei ist bei Brecht eine große
Sympathie für dessen List erkennbar. Er selbst sollte sich später in
vergleichbaren Situationen auch als wenig mutig erweisen. Dies trifft z.B.
für seine Vernehmung vor dem "McCarthy-Ausschuß zur Untersuchung
unamerikanischer Umtriebe" in den fünfziger Jahren zu. Brecht leugnete
dabei jede Verbindung zu kommunistischen Kreisen. Dies verteidigte er
später damit, daß er nur so eine Chance erhoffte, ein Ausreisevisum
aus den USA zu erhalten.
Brecht stand bald unter dem Eindruck der Gefahr eines nuklearen
Weltkrieges. Aufgabe der Naturwissenschaftler sei ein öffentlicher Protest
am atomaren Wettrüsten und die Weigerung, an der Weiterentwicklung von
Atomwaffen mitzuwirken, gegen alle persönlichen Schwierigkeiten. Er war
nun nicht mehr von der zwangsläufigen Entwicklung zu einer immer mehr
rational geprägten, humanen Gesellschaft überzeugt. Daher
änderte er jetzt den Galilei-Text ab und verschärfte die Kritik an
Galilei. Naturforschung könne sich nie ihrer gesellschaftlichen
Verantwortung entziehen.(8) Immer wieder beschäftigte Brecht die Frage, ob
die Gesellschaft sich nach kausalen Gesetzen entwickle oder ob sie durch
persönliche Eingriffe beeinflußbar sei, ja beeinflußt werden
müsse.
Unvereinbare Sichtweisen
Die Gegenüberstellung von Brecht und Munk zeigt, daß nicht einmal
ansatzweise eine Brücke zwischen den Denkweisen der beiden Autoren
herzustellen ist, abgesehen davon, daß beide Gegner Hitlers waren. Es ist
in Dänemark nicht immer populär, an Munks politische Position vor
Beginn der deutschen Besatzung zu erinnern. Parallelen zu Deutschland
drängen sich auf. Straßen und öffentliche Einrichtungen sind
nach Märtyrern des Widerstandes gegen Hitler benannt, hauptsächlich
Offizieren, die hinter dem Attentat auf Hitler standen, aber auch Männern
der Kirche. Auch hier wird gerne verschwiegen, daß diese oft lange genug
zu Hitler standen. So wie in Dänemark wird ebenfalls verdrängt,
daß nur eine Minderheit schließlich den Mut zum Widerstand fand.
Wer den Nationalsozialismus nicht selbst erlebt hat, bekommt leicht
den Eindruck, daß die Widerstandskämpfer vorwiegend konservativ
waren. Verdienste kommunistischen Widerstands werden gern verschwiegen. Dennoch
ist nicht zu bestreiten, daß unter den Mutigsten auffällig viele mit
einer gewissen Neigung zum autoritären Staat mit einem starken Mann an der
Spitze waren. Allzu lange waren sie blind gegenüber dem, wozu dieser sich
entwickeln konnte. Sie waren oft durch ein Loyalitätsgefühl ihren
Führern gegenüber gebunden, welche sie indes tief enttäuschten,
als sie sich als offensichtlich barbarisch erwiesen. Ihre Erbitterung war
daher, genau wie bei Munk, viel stärker als bei von vornherein skeptischen
Denkern wie etwa Brecht.
Entnommen aus:
Vorschein, Blätter des Ernst-Bloch-Archivs,
Nr. 17, Mai 1999, Seite 137 bis 144.
Die Zeitschrift wird von der
"Ernst-Bloch-Assoziation" herausgegeben,
deren Mitglied Reinhart Behr war.
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Anmerkungen
1: Die dänischen Volkshochschulen sind nicht mit deutschen zu vergleichen.
Sie gehen auf die Initiative des dänischen Pfarrers und Dichters N. F. S.
Grundtvig zurück. Ihr Ziel war, das geistige Potential der Jugend auf dem
Lande zu wecken, und zwar bereits vor rund 150 Jahren. Sie standen damit in
bewußtem Gegensatz zu den an klassischer Bildung orientierten Gymnasien,
welche der städtischen Oberklasse vorbehalten waren.
2: Entweder-Oder erschien erstmals 1843 in dänischer Sprache.
3: Bertolt Brecht: "Lob des Zweifels" in: Gedichte, Frankfurt am Main 1975.
4: B. N. Brovst: Krigen og mordet (Der Krieg und der Mord), Kopenhagen
(Centrwii) 1993. Diese Schrift ist leider nur im dänischen Original
erhältlich.
5: Kai Munk: Ordet, Kopenhagen 1932. Ebenfalls nur auf Dänisch.
6: Hierzu siehe: Werner Hecht (Hg.): Brechts Leben des Galilei
<, Frankfurt am Main 1981 sowie: Spectaculum 65. Sonderband zum 100. Geburtstag
von Bertolt Brecht. Frankfurt am Main 1998.
7: Aus positivistischer Perspektive ist darüber hinaus sogar die Frage, ob
die Sonne oder die Erde ruhe, eine Scheinfrage. Denn die Sternbewegung
läßt sich bei beiden Vorstellungen mit gleicher Exaktheit
beschreiben, unterschiedlich sei lediglich das verwendete Bezugssystem. Die
Anhänger der realistischen im Gegensatz zur positivistischen Position
weisen hingegen darauf hin, daß nur die Kopernikanische Vorstellung der
ruhenden Sonne Newton zur Auffindung des Gravitationsgesetzes und damit zum
physikalischen Verständnis der Himmelsbewegungen geführt habe.
Hiermit wäre also gezeigt, daß nur das Modell von Kopernikus der
Realität angemessen sei. Einwenden kann man allerdings, daß auch
über das andere Bezugssystem das Gravitationsgesetz gewonnen worden
wäre, jedoch wegen seiner dann viel schwierigeren Form wahrscheinlich viel
später. Merkwürdigerweise geht Brecht in seinem Galilei
überhaupt nicht auf die positivistische Position ein, obwohl er diese
sicherlich häufig in seinen Gesprächen mit dem positivistischen
Philosophen Hans Reichenbach diskutierte, sowohl in Svendborg als auch
später in den USA. Bereits Lenin kritisierte den Positivismus als
wesentliches Hindernis für den Erkenntnisfortschritt.
8: Siehe hierzu: Werner Hecht (Hg.): Brechts "Leben des Galilei", a.a.0.
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