Reinhart Behr:    Verantwortung des Schriftstellers

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Reinhart Behr

Die gesellschaftliche Verantwortung des Schriftstellers

- aus der Sicht von Bertolt Brecht und Kaj Munk
 Munk

Brecht 1946

Es sind zunächst äußere Gründe, welche es mir nahegelegen sein ließen, Brecht und den in Deutschland praktisch unbekannten dänischen Schriftsteller Kaj Munk einander gegenüberzustellen. Der erste Grund ist ein zeitlicher: Beide wären 1998 hundert Jahre alt geworden und wurden daher von ihren Anhängern gebührend gefeiert. Der zweite Grund ist geographischer Natur: Brecht wohnte von 1933 bis 1938 im dänischen Svendborg, wohin er aus Hitler-Deutschland geflüchtet war. Munk hielt in jener Zeit in der Sporthochschule von Ollerup (ganz in der Nähe) eine aufsehenerregende politische Rede. Gesehen haben beide sich jedoch nicht. Sie hätten sich wohl auch nichts zu sagen gewußt, weil sie geradezu gegensätzliche Charaktere mit absolut unterschiedlichen Weltanschauungen gewesen sein dürften.
  Und damit bin ich bei dem Hauptgrund, der mich veranlaßt hat, mich vergleichend mit diesen beiden Autoren zu beschäftigen: Beide verkörpern in der Frage, wie ihrer Auffassung gemäß ein Schriftsteller seine Aufgabe sehen sollte, diametral entgegengesetzte Positionen, welche ich im folgenden vorstellen will.

Kaj Munk - kein normaler dänischer Landpfarrer

Munk lebte als Landpfarrer an der jütländischen Westküste und wurde in den dreißiger Jahren zunehmend bekannt durch Theaterstücke und Gedichte, die seine christliche Weltanschauung verrieten. Seine zahlreichen Reden, zumeist an Volkshochschulen(1) gehalten, wandten sich vor allem an die dä nische Jugend. Munk richtete oft mit wenig Resonanz leidenschaftliche Appelle an seine jungen Zuhörer. Diese sollten, statt die Wochenenden mit "seichten" Tanzvergnügen zu verbringen, sich in Turn- und Schützenvereinen zum Zwecke der Wehrbereitschaft für das Vaterland "stählen". Sie sollten Wertbegriffe wie Glaube, Familie und Nation achten und hüten. Der Staat brauche statt des Parlamentarismus eine starke Führerpersönlichkeit, respektiert, weil sie Verantwortung zu tragen bereit sei. Mussolini, z.T. auch Hitler, seien hierin Vorbild. Zweifellos war Munk politisch naiv. War dies nicht sogar Voraussetzung für seine Konsequenz? Er war erschüttert über die Weise, mit der Hitler die Juden behandelte. Er schrieb an Mussolini in der Hoffnung, daß dieser Hitlers Rassenpolitik entgegenwirken würde, natürlich ohne Resultat. Als 1940 Dänemark praktisch kampflos den deutschen Truppen übergeben wurde, schlug Munks Respekt für die faschistischen Führer in bittere Enttäuschung um. Maßlos empörte ihn das, wie er meinte, würdelose Verhalten der dänischen Regierung. Er setzte unter der Besatzung seine Vortragstätigkeit fort. Unermüdlich rief er nun direkt zu aktivem Widerstand gegen die Besatzer auf. 1944 wurde Munk auf direkte Weisung Hitlers von Gestapo-Leuten aus seiner Familie gerissen und in einem Wald hinterrücks erschossen.
  Munk ist in Dänemark respektiert und geschätzt, er wird aufgeführt und gefeiert. Der Grund hierfür ist offenbar das Bedürfnis, sich im nachhinein mit ihm zu identifizieren, mit dem Symbol eines mutigen Patrioten. Er kann jenen Nationen vorgezeigt werden, die Hitler bekämpft und Dänemark die allzu lange Zusammenarbeit mit dem Naziregime vorgeworfen hatten.

Hier Bertolt Brecht - dort Kaj Munk

Auf diese Fakten gestützt, ist nun ein thesenhafter Vergleich mit Brecht, dessen Ansichten und Lebensumstände weitgehend bekannt sein dürften, eher nachvollziehbar. Die äußere Erscheinung läßt schon den Gegensatz erkennen:
Hier steht Brecht, in Proletarierkluft, in "schlechter" Haltung, verlegen den Blick zu Boden richtend. Dort sehen wir Munk, straff, in schwarzem Anzug, den Blick intensiv auf den Zuhörer gerichtet.
Hier ist der Atheist, dort der überzeugte Christ.
Hier der Internationalist, dort der glühende Patriot.
Hier der Gegner aller überlieferten Autoritäten, von denen sich die Massen befreien sollen. Dort der Mann, der eine straff geordnete Gesellschaft mit der Familie als Kernelement wünscht.
Hier der Zyniker, Skeptiker, selbst Freunden gegenüber. Dort der naiv Vertrauende gegenüber Gott und der starken Führerpersönlichkeit, aber auch Freunden gegenüber.
Hier der Taktiker, der "Anti-Held", der die Gesellschaft verachtet, die meint Helden zu benötigen. Dort der Idealist, bereit ist, für seine Ideale zu kämpfen.

  Munk läßt an Sören Kierkegaard denken. Dieser verachtete auch jeden Kompromiß, forderte leidenschaftlich Entweder - Oder(2). Munk war wie der Philosoph bereit, für seine Überzeugung Opfer zu bringen. ja er suchte geradezu die Möglichkeit zu einem solchen Opfer. Die Konsequenz erfuhr er wie beschrieben. Dagegen war der Marxist Brecht ein scharfsinniger Analytiker, der schon früh absehen konnte, in welcher Richtung sich Deutschland entwickeln würde. Er war fähig zu taktischem Verhalten, das ihm womöglich sein Leben rettete, zumindest immer seine Chancen erkennen ließ. Ein Rollbild eines chinesischen Weisen, des Zweiflers, begleitete Brecht überall in der Emigration. Es hing auch in seinem Svendborger Haus.
  Brecht reflektierte jedoch das Gefährliche des rein analytischen Vorgehens. Denn bedeutet nicht, alles zu erklären, auch alles zu akzeptieren? Ist der Analytiker, der Zweifler, überhaupt fähig zu handeln? Brecht brachte dies in seinem Gedicht über den Zweifler zum Ausdruck, in dem es heißt:

"Da sind die Unbedenklichen, die niemals zweifeln. Die Unbedenklichen begegnen den Bedenklichen, die niemals handeln. Falsch mag handeln, der sich mit zu wenigen Gründen begnügt. Aber untätig bleibt in der Gefahr, wer zu viele braucht."(3)

Kannte Munk solche Überlegungen? Verhielt er sich taktisch? Konnte er die dänischen Politiker respektieren, die zwar gegen Hitlers Deutschland waren, aber die Zusammenarbeit als das beste für Dänemark ansahen? Dreimal Nein. Er - ein Pfarrer! - nannte die dänischen Staatsmänner "jämmerliche Arschlecker" und schrieb:

"Das verrottete dänische Volk. Das man geliebt hat! Und das nun bereitwillig das Erbrochene der Deutschen frißt. Ich ersehne die Kugel! "(4)

Gemeinsam war Brecht und Munk die Verachtung des Parlamentarismus, aber aus verschiedenen Gründen: Für Brecht konnte das parlamentarische System nur im Interesse einer Klasse wirken, der besitzenden. Munk hingegen hielt dieses System grundsätzlich für nicht handlungsfähig, weil alle die Verantwortung trügen und damit übernahm sie seiner Meinung nach niemand. Nur ein Führer sei daher geeignet, Verantwortung zu übernehmen. Gemeinsam war beiden auch, daß sie Hitler nicht hassen konnten, wiederum aus ganz verschiedenen Gründen: Brecht meinte, Hitlers Entwicklung und zunehmenden Erfolg durch seine marxistische Sicht auf die Geschichte erklären zu können. Für Munk hatte nur Gott das Recht zu urteilen.

Dramenvergleich: Munks Ordet - Brechts Leben des Galilei

Brecht und Munk waren zwar beide um Brechts Terminologie zu verwenden Stückeschreiber, aber auch darin sehr verschieden. Brecht wollte mit seiner Verfremdungstheorie erreichen, daß der Zuschauer sich nicht von seinen Gefühlen mitreißen läßt, sondern den Zusammenhang im Gezeigten analysiert, um selbst handlungsfähig zu sein. Munk hingegen wollte mit seinen Theaterstücken ein Licht im Zuschauer anzünden, ein Licht, das nicht Resultat einer Erkenntnis, sondern unmittelbar erfahrbar sei. Ich will das an zwei Beispielen näher erläutern:   Munk beschreibt im Drama Ordet (5) (Das Wort), das heute noch immer aufgeführt wird, eine Familie, die sich um die gerade verstorbene Mutter schart. Der Vater, ein Pfarrer, hat einen Bruder, der zunächst nur im Hintergrund bemerkbar ist. Er gilt als wunderlich, weil er meint Jesus zu sein. Das jüngste Kind wendet sich eindringlich an diesen: Wenn er wirklich Jesus sei, müsse er durch ein Wort die Mutter wieder zum Leben wecken können. Dieser spricht das Wort, und die Mutter erwacht. Tief bewegt soll der Zuschauer zurückbleiben, gerade wegen des jeder Vernunft baren Schlusses. Munk wurde von Theologen deswegen heftig kritisiert, die sich stets bemühten, eine Verbindung zwischen christlichem Glauben und Vernunft herzustellen. Widerspräche die Figur des wunderlichen Bruders nicht dem Glauben an die Einzigartigkeit von Jesus? Munk ließ sich hierdurch nicht beirren. Sein Ziel war, im Zuschauer das Gefühl zu wecken, daß dem Menschen Hilfe nur von "außerhalb" zuwachsen könne. Wieder wird man an Kierkegaard erinnert. Auch dieser meinte im Gegensatz zum theologischen Kanon, an Christus zu glauben sei nur möglich, weil dieser Glaube der Vernunft unzugänglich ist.
Galilei
  Brecht schrieb das Leben des Galilei(6) in Svendborg: Vorausgegangen waren gründliche Studien der Persönlichkeit Galileis und der Astronomie seiner Zeit. Galilei hatte das Kopernikanische Weltbild vertreten, nach dem die Erde nicht der Mittelpunkt des Weltalls sei, sondern um die Sonne kreise. Vor dem Inquisitionsgericht der katholischen Kirche distanzierte sich Galilei unter Androhung der Tortur von seiner Position. Er beugte sich der Macht, denn er war überzeugt, daß sich die Kopernikanische Erkenntnis schließlich ohnehin als die richtige durchsetzen werde. Ein Märtyrertod erschien ihm unnötig, außerdem liebte er das Leben und war besessen von Physik und Forschung, mit deren Hilfe er den wissenschaftlichen Fortschritt zur Not auch im Geheimen vorantreiben wollte.
  Damit verriet Galilei so Brecht die arbeitende Klasse Italiens. Denn die Autorität der katholischen Kirche und der sie stützenden weltlichen Kräfte wäre in den Augen des Volkes ins Wanken geraten, wenn ihr Anspruch auf den Besitz der alleinigen Wahrheit bestritten worden wäre. Brecht überbewertete hier wohl die gesellschaftliche Bedeutung des Streites. Für den einfachen Menschen war die inzwischen ja bereits offiziell akzeptierte Erkenntnis, daß die Erde eine Kugel sei, sicher umwälzender als die Frage, ob sie sich bewege oder nicht.(7)
  Trotz der Kritik an Galilei ist bei Brecht eine große Sympathie für dessen List erkennbar. Er selbst sollte sich später in vergleichbaren Situationen auch als wenig mutig erweisen. Dies trifft z.B. für seine Vernehmung vor dem "McCarthy-Ausschuß zur Untersuchung unamerikanischer Umtriebe" in den fünfziger Jahren zu. Brecht leugnete dabei jede Verbindung zu kommunistischen Kreisen. Dies verteidigte er später damit, daß er nur so eine Chance erhoffte, ein Ausreisevisum aus den USA zu erhalten.
  Brecht stand bald unter dem Eindruck der Gefahr eines nuklearen Weltkrieges. Aufgabe der Naturwissenschaftler sei ein öffentlicher Protest am atomaren Wettrüsten und die Weigerung, an der Weiterentwicklung von Atomwaffen mitzuwirken, gegen alle persönlichen Schwierigkeiten. Er war nun nicht mehr von der zwangsläufigen Entwicklung zu einer immer mehr rational geprägten, humanen Gesellschaft überzeugt. Daher änderte er jetzt den Galilei-Text ab und verschärfte die Kritik an Galilei. Naturforschung könne sich nie ihrer gesellschaftlichen Verantwortung entziehen.(8) Immer wieder beschäftigte Brecht die Frage, ob die Gesellschaft sich nach kausalen Gesetzen entwickle oder ob sie durch persönliche Eingriffe beeinflußbar sei, ja beeinflußt werden müsse.

Unvereinbare Sichtweisen

Die Gegenüberstellung von Brecht und Munk zeigt, daß nicht einmal ansatzweise eine Brücke zwischen den Denkweisen der beiden Autoren herzustellen ist, abgesehen davon, daß beide Gegner Hitlers waren. Es ist in Dänemark nicht immer populär, an Munks politische Position vor Beginn der deutschen Besatzung zu erinnern. Parallelen zu Deutschland drängen sich auf. Straßen und öffentliche Einrichtungen sind nach Märtyrern des Widerstandes gegen Hitler benannt, hauptsächlich Offizieren, die hinter dem Attentat auf Hitler standen, aber auch Männern der Kirche. Auch hier wird gerne verschwiegen, daß diese oft lange genug zu Hitler standen. So wie in Dänemark wird ebenfalls verdrängt, daß nur eine Minderheit schließlich den Mut zum Widerstand fand.
  Wer den Nationalsozialismus nicht selbst erlebt hat, bekommt leicht den Eindruck, daß die Widerstandskämpfer vorwiegend konservativ waren. Verdienste kommunistischen Widerstands werden gern verschwiegen. Dennoch ist nicht zu bestreiten, daß unter den Mutigsten auffällig viele mit einer gewissen Neigung zum autoritären Staat mit einem starken Mann an der Spitze waren. Allzu lange waren sie blind gegenüber dem, wozu dieser sich entwickeln konnte. Sie waren oft durch ein Loyalitätsgefühl ihren Führern gegenüber gebunden, welche sie indes tief enttäuschten, als sie sich als offensichtlich barbarisch erwiesen. Ihre Erbitterung war daher, genau wie bei Munk, viel stärker als bei von vornherein skeptischen Denkern wie etwa Brecht.

Entnommen aus:
Vorschein, Blätter des Ernst-Bloch-Archivs,
Nr. 17, Mai 1999, Seite 137 bis 144.

Die Zeitschrift wird von der
"Ernst-Bloch-Assoziation" herausgegeben,
deren Mitglied Reinhart Behr war.

Probe Galilei

 

Anmerkungen
1: Die dänischen Volkshochschulen sind nicht mit deutschen zu vergleichen. Sie gehen auf die Initiative des dänischen Pfarrers und Dichters N. F. S. Grundtvig zurück. Ihr Ziel war, das geistige Potential der Jugend auf dem Lande zu wecken, und zwar bereits vor rund 150 Jahren. Sie standen damit in bewußtem Gegensatz zu den an klassischer Bildung orientierten Gymnasien, welche der städtischen Oberklasse vorbehalten waren.
2: Entweder-Oder erschien erstmals 1843 in dänischer Sprache.
3: Bertolt Brecht: "Lob des Zweifels" in: Gedichte, Frankfurt am Main 1975.
4: B. N. Brovst: Krigen og mordet (Der Krieg und der Mord), Kopenhagen (Centrwii) 1993. Diese Schrift ist leider nur im dänischen Original erhältlich.
5: Kai Munk: Ordet, Kopenhagen 1932. Ebenfalls nur auf Dänisch.
6: Hierzu siehe: Werner Hecht (Hg.): Brechts Leben des Galilei <, Frankfurt am Main 1981 sowie: Spectaculum 65. Sonderband zum 100. Geburtstag von Bertolt Brecht. Frankfurt am Main 1998.
7: Aus positivistischer Perspektive ist darüber hinaus sogar die Frage, ob die Sonne oder die Erde ruhe, eine Scheinfrage. Denn die Sternbewegung läßt sich bei beiden Vorstellungen mit gleicher Exaktheit beschreiben, unterschiedlich sei lediglich das verwendete Bezugssystem. Die Anhänger der realistischen im Gegensatz zur positivistischen Position weisen hingegen darauf hin, daß nur die Kopernikanische Vorstellung der ruhenden Sonne Newton zur Auffindung des Gravitationsgesetzes und damit zum physikalischen Verständnis der Himmelsbewegungen geführt habe. Hiermit wäre also gezeigt, daß nur das Modell von Kopernikus der Realität angemessen sei. Einwenden kann man allerdings, daß auch über das andere Bezugssystem das Gravitationsgesetz gewonnen worden wäre, jedoch wegen seiner dann viel schwierigeren Form wahrscheinlich viel später. Merkwürdigerweise geht Brecht in seinem Galilei überhaupt nicht auf die positivistische Position ein, obwohl er diese sicherlich häufig in seinen Gesprächen mit dem positivistischen Philosophen Hans Reichenbach diskutierte, sowohl in Svendborg als auch später in den USA. Bereits Lenin kritisierte den Positivismus als wesentliches Hindernis für den Erkenntnisfortschritt.
8: Siehe hierzu: Werner Hecht (Hg.): Brechts "Leben des Galilei", a.a.0.