Reinhart Behr:    Zur Physik des Radfahrens

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Rad

Mit sechzig ist es nicht zu spät!

Ich war ein schwieriger Fall, stamme aus einer unsportlichen Familie. Weder Vater noch Mutter fuhren Rad. Als ich zwölf war, versuchte ein Freund mir das Radfahren beizubringen. Wir fuhren eine lange Strecke durch den Wald, aber als wir bei der Rückkehr in eine belebte Straße einbogen, fiel ich mitten zwischen den Autos vom Rad. Nichts Ernstes geschah, aber ich wurde wieder unsicher.

Später wurde das Denken ein großes Hindernis. Als ich Physik studierte, wurde mir klar, was für ein kompliziertes Unterfangen doch das Radfahren ist. Ich begann tiefen Respekt vor Leuten zu bekommen, die zur Seite abbiegen, ohne vom Rad zu fallen. Schließlich mussten sie dabei doch das Rad etwas zur Seite neigen, aber um wie viel Grad? Das hing in verwickelter Weise von der Höhe des Schwerpunktes, dem Krümmungsradius der Rechts- oder Linkskurve und der Geschwindigkeit bei der Annäherung an sie ab. Wie konnte man alle diese Faktoren passend berücksichtigen, wenn die Kurve schon näher und näher kam? Vergleichbar war dies wohl nur mit der Steuerung der amerikanischen Astronauten bei der Landung auf dem Mond.

Natürlich grinsten alle, denen ich von meinem Problem erzählte. "Du darfst dabei nicht so viel denken!" Leicht gesagt. Bekanntlich kann man sich z. B. Mühe geben an etwas zu denken. Aber die Mühe, an etwas nicht zu denken, es zu vergessen, ist vergebens. Je mehr man zu vergessen sucht, desto mehr konzentriert man sich ja darauf. Es ist geradezu ein philosophisches Problem.

Mit sechzig zog ich mit meiner Frau aufs Land. Weit war es bis zur nächsten Bushaltestelle. Sollte ich es noch einmal wagen? Freunde hatten mir dafür ein niedriges Klapprad geliehen, und ich begann auf stillen Waldwegen - fern von vielleicht grinsenden Zuschauern - zu üben. Die vielen Landungen im Gebüsch am Wegesrand waren stets sanft, und tatsächlich ging es allmählich. Am zweiten Tag aber kam ich mit hängenden Ohren von meinem Versuch zurück, in Schweiß gebadet. "Ich lerne es nie, es geht schwerer als gestern!" sagte ich zu meiner Frau. Sie entdeckte den Grund: Der Hinterreifen war total platt.

(på danska)

Mit prallen Reifen und neuen Kräften neue Versuche, und - ich konnte es kaum fassen - ich kam schließlich sogar um die Ecke, ohne zu stürzen. Allein der Blick auf die Einbiegung ließ einen offenbar das Rad richtig einschlagen. Zwar ist mir der Grund dafür physikalisch immer noch nicht klar, aber was soll es?

Schließlich bin ich nicht der Philosoph Hegel. Dieser hatte eine Reihe geistreicher Naturgesetze aufgestellt. Auf die vorsichtige Frage, ob sich die Natur nicht vielleicht anders als in den Gesetzen behauptet verhalten werde, antwortete Hegel: "Dann ist das um so schlimmer für die Natur!" Jedenfalls wird das so erzählt.

Ein sicheres Radfahren wurde es nun freilich nicht so schnell. Das bekamen auch bald die Nachbarn mit. Eines Tages näherte ich mich schlingernd auf dem inzwischen erworbenen "richtigen" Rad dem Haus eines Nachbarn. Dieser stand mit Freunden vor der Tür. Als er mich sah, rief er: "Volle Deckung, Reinhart kommt!" Alles endete in gutmütigem Gelächter, und so etwas tut gut.

Besonders schwierig war lange der Start. Startete ich zu langsam, kam ich zu sehr ins Schlingern und verlor die Balance. Aber bei zu schnellem Start konnte ich das Fahrrad nicht schnell genug in die gewünschte Richtung bringen. Nun, auch das gelang schließlich, auch die Überwindung der Angst vor zu nahen Autos. Ein quer herausragender Abstandshalter zwingt die Autofahrer zu respektvollem Abstand.

Nun gibt es kein Bremsen mehr, auf ruhigen Wegen wird das Fahren sogar zu früher nie geahntem Genuss. Auf langen Touren genieße ich die vorübergleitende Landschaft, denn ich habe es tatsächlich geschafft, nicht mehr an den nötigen Neigungswinkel zu denken.

6. 11. 1989 Reinhart Behr