Reinhart Behr Online:    Leben mit Mathematik -Vorwort-

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 Inhalt  Vorwort  I: Rolle der Mathematik  II: Studienjahre  III: Referendariat  IV: Lehrberuf  V: Mathematik im Ruhestand

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Vorwort

Als pensionierter Gymnasiallehrer aus Berlin in einem kleinen dänischen Dorf lebend, habe ich die Muße zu einem Rückblick. Was waren erste geistige Eindrücke, und wie haben sie den weiteren Lebensweg bestimmt?

Es zeigt sich, daß hierbei die Mathematik eine wesentliche Rolle spielte. Sie war früh eine entscheidende Hilfe zur Gewinnung von Selbstsicherheit und prägte mein sich allmählich entwickelndes Weltbild. Hier soll kein falsches Bild gegeben werden. Ein zweiter Schwerpunkt war für mich die Politik, genauer das Bedürfnis, die gesellschaftlichen Vorgänge zu reflektieren und mit zu prägen. Darauf wird hier aber nur insoweit eingegangen, als dies im Zusammenhang mit der Mathematik von Interesse ist.

Die Liebe zur Mathematik führte mich zum Beruf des Mathematik-Lehrers. So beschäftigte mich dann nicht nur die Mathematik selbst, sondern ihre Vermittlung.

Ich erlebte die immer neuen Reformen des Mathematik-Unterrichts. Vieles, vielleicht sogar das meiste, mit großen Erwartungen begonnen, erwies sich als Illusion. Ist das nicht Grund genug, Zyniker zu werden?

Keineswegs. Ich erhoffe noch immer einen wesentlich anderen, besseren Mathematik-Unterricht als wir nur zu oft vorfinden. Hier sei aber schon betont: Maßstab ist für mich nicht, ob man hierdurch einen besseren Stand für Deutschland im internationalen Vergleich erreicht, gar mit dem Wunsch, hierdurch Deutschland eine ökonomische Spitzenstellung zu verschaffen. Man lese hierzu nur die Reaktionen auf die TIMMS-Studie und die PISA-Studie. In diesen wurden die mathematischen Leistungen von Schülern der Industrieländer verglichen, mit dem Ergebnis, daß Deutschland hierbei nur eine Mittelstellung einnahm.
Bittere historische Erfahrungen haben mich gegen solche Ziele gefeit gemacht. Würde dies doch nichts anderes bedeuten, als daß andere Länder auf einen schwächeren Platz gedrückt werden. Mit welchem Recht?

Mein Ziel ist ein ganz anderes. Ich möchte, dass mehr Schüler Lust bekommen, in das schöne, weit verzweigte Reich der Mathematik tiefer einzudringen. Denn dies hält immer neue Überraschungen bereit, selbst für den Fachmann.
Ich wünsche mir aber vor allem, dass Schüler, bei denen dieser Funke nicht zündet - und das wird immer die Mehrheit sein - einen sicheren Umgang mit dem Werkzeug Mathematik für die Praxis lernen.



Eigene Gedanken zu einer möglichen Umsetzung dieser Ziele stelle ich vor. Hierbei genieße ich die Narrenfreiheit des Pensionärs. Jüngere Lehrer mit neuen, fruchtbaren Ideen tun mir oft leid. Sie meinen erst einmal nachweisen zu müssen, daß sie mit den verschiedensten didaktischen Strömungen und ihrer Terminologie vertraut sind. Sie zeigen das in ihren Veröffentlichungen durch eine imponierende Liste der berücksichtigten Literatur. Damit erreichen sie zwar die Berufsdidaktiker, aber kaum die normalen Lehrer.

Möge dieses Büchlein jüngeren Lehrern Anregungen geben und Mut machen, unbefangener neue Ideen zu entwickeln und neue Methoden zu erproben. Hierzu bedarf es aber der Ermutigung durch Ausbildungsleiter, Vorgesetzte und Behörden. Nur zu oft erlebt man eher das Gegenteil.

Nahe liegt die Frage, ob die Vermittlung der Mathematik in der Schule bei mir nicht das Erforschen der Mathematik selbst in den Hintergrund drängte. Tatsächlich war es genau umgekehrt.

Der Lehrberuf zwang immer von neuem zu der Frage: Was ist es an der Mathematik, das es so vielen Schülern schwer, ja manchen ganz unmöglich macht, in sie einzudringen? Ich begann die Mathematik mit den Augen der Schüler, also "von außen", zu betrachten.

Hierdurch lernte ich, die Mathematik immer weniger als ein vorzufindendes, geschlossenes System zu sehen. Sie interessierte mich als Gewachsenes, aus konkreten Erfordernissen der Gesellschaft entstanden. Zu der Höhe ihrer Abstraktion war sie schließlich erst allmählich gelangt, erhielt aber dadurch ihre Stärke und die Sonderstellung unter den Wissenschaften, die sie einnimmt.

Ich begann immer besser die Schüler zu verstehen, aber auch immer klarer zu erkennen, was mathematisches Denken kennzeichnet. Beides befruchtete sich gegenseitig. Anders gesagt: Ich entdeckte am Beispiel Mathematik eine Dialektik zwischen dem Erkennen eines Gebietes und seiner Vermittlung.

Diese Dialektik bewußt zu machen, auch als Schlüssel zu einem besseren Mathematik-Unterricht, ist mein Ziel.

    
behr-a-r@mail.dk