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  Reinhart Behr:   Leben mit Mathematik - Mathematik in meiner Entwicklung -

 Inhalt  Vorwort  I: Rolle der Mathematik  II: Studienjahre  III: Referendariat  IV: Lehrberuf  V: Mathematik im Ruhestand

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Ia) Die Rolle der Mathematik für die eigene Entwicklung

Das nachdenkliche Kind

Ein Rückblick birgt immer die Gefahr einer Verklärung, besonders wenn er die frühen Lebensjahre einbezieht. Schwer ist es da, Selbsterlebtes von Berichten Wohlmeinender zu trennen. Es muß bei mir jedoch bereits früh eine Faszination durch Zahlen bestanden haben. Das illustriert das Folgende.

Meine Mutter fuhr mit mir als fünfjährigem Stepke in Berlin im Omnibus. Nur sie benötigte einen Fahrschein, ich war noch zu jung. Ich griff den Fahrschein meiner Mutter und las - für alle vernehmbar - die sechsstellige Fahrscheinnummer vor. Kommentar des Schaffners: "Merkwürdig, gewisse Kinder scheinen nie sechs Jahre alt zu werden!"

Manche Fahrgäste mögen meine Künste auf ehrgeizige Eltern zurückgeführt haben. Diese hätten wohl dem Kleinen die großen Zahlen beigebracht. Wie falsch! Meine Eltern hatten keinerlei Ambitionen in dieser Richtung. Große Zahlen hatten mich einfach neugierig gemacht, und allmählich fragte ich mich schon: Wie drückt man größere und immer größere Zahlen aus? Kann man das unbegrenzt?

Als Siebenjähriger wurde ich - bleiches Großstadtkind - für einige Monate an die Nordsee geschickt, in ein Kinderheim in Sankt Peter - Ording. Noch heute bin ich der Leiterin dankbar. Sie erlaubte mir, ganz allein stundenlange Wanderungen am Strand der vorgelagerten Sandbank zu machen.

Ich zog mit dem Hacken eine Linie in den feuchten Sand, die sich im Nebel verlor. Wohin würde eine solche Linie führen, wenn man sie immer weiter zöge? Wieder das Nachdenken über das Unbegrenzte.

Viele Jahre später stieß ich in einem Buch über die Philosophie der Naturwissenschaften, dessen Titel mir enfallen ist, auf eine Stelle, welche die Erinnerungen an die frühen Strandwanderungen wieder wachrief.

"Ein Wanderer geht an einem Strand umher. Er entdeckt eine Spur im Sand, die ihn neugierig macht. Wo mag sie beginnen, wo enden? Wer hat sie bewirkt? Nach langem Weg entdeckt der Wanderer: Die Spur ist seine eigene!"

Nie später habe ich das Meer so erlebt wie damals als Kind, nämlich als eine riesige Naturkraft, einem Tier gleich, dessen Konturen sich in der Ferne verlieren. Nur mit wenigen, durchweg älteren Kindern konnte ich über meine Wanderungen reden. Die üblichen Interessen Gleichaltriger empfand ich schlicht als albern. Ich war froh, dass die Erzieherinnen mich damit verschonten, mir ein "Gemeinschaftserlebnis" mit diesen zu vermitteln. War dies richtig? Ich muß das offen lassen.

Eines Morgens - es war Oktober, die Zeit der Herbststürme - wachten wir auf und sahen unser Kinderheim allseits von Meerwasser umspült. In der Nacht war das Wasser über den Deich getreten. Worte wären zu banal, das tiefe Gefühl hierbei zu beschreiben. Naturvölker, ohne die Kenntnis der kausalen Naturzusammenhänge, müssen Naturgewalten ähnlich erleben.

Wir Kinder erwarteten, ja erhofften eine dramatische Evakuierung. Aber gegen Mittag lief das Wasser ab, zu einer dramatischen Rettungsaktion bestand kein Anlass.

    
behr-a-r@mail.dk