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  Reinhart Behr:   Leben mit Mathematik - Studienjahre -

 Inhalt  Vorwort  I: Rolle der Mathematik  II: Studienjahre  III: Referendariat  IV: Lehrberuf  V: Mathematik im Ruhestand

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IIa) Die Studienjahre

Beginn des Studiums in schwerer Zeit

Schon zum Herbst 1947 konnte ich das Studium der Mathematik beginnen. Als zweites Fach hätte ich gern Englisch gewählt. Zur englischen Sprache und Kultur hatte mein Englisch-Lehrer der Jahre 1940-43 meine Liebe geweckt. Er gab uns ein Englandbild, das in stärkstem Kontrast zur offiziellen Propaganda war.

Man riet mir aber von dieser Fächerkombination ab. Von einem Mathematik-Lehrer erwarte man die Beherrschung eines naturwissenschaftlichen Faches. So wählte ich als zweites Fach Physik, da es meinen mathematischen Idealen am nächsten kam.

Welche Studienbedingungen herrschten, lohnt es zu schildern. Die Humboldt-Universität, Unter den Linden gelegen, war damals die einzige Berliner Universität. Sie war zur Hälfte Ruine. Zu den Vorlesungsräumen kletterte man über Trümmerhaufen und die Gleise von Loren. Diese wurden von den berühmten Trümmerfrauen beladen.

Ihr Beruf war, heute wohl schwer verständlich, begehrt. Sie bekamen nämlich als körperlich Arbeitende eine hohe Stufe der Lebensmittelkarte. Mein Vater als Büroangestellter erhielt eine schlechtere Karte, meine Mutter als kränkelnde Hausfrau die schlechteste. Diese ermöglichte kaum das Überleben.

Die Universität lag im sowjetischen Sektor Berlins, ich wohnte im amerikanischen Sektor. Sowjetischer, ja schon früher russischer Tradition entsprechend stand die sogenannte "Intelligenz" in hohem Ansehen. "Intelligenzler", zu denen Professoren wie Künstler gehörtern, bekamen von der sowjetischen Militäradminstration regelmäßig sogenannte Pajoks, deftige Lebensmittelpakete. Diese wurden ihnen von Rotarmisten direkt ins Haus geliefert. Dahinter stand neben Respekt wohl ein Weiteres. Diese Kräfte hatten eine wichtige Funktion für den Wiederaufbau, und sie waren ihrer Herkunft nach wohl nur selten fähig, für sich Gemüsegärtchen anzulegen. Solche entstanden überall in Parks und auf freien Plätzen zwischen den Ruinen, voneinander durch Bettgestelle abgegrenzt, die man aus den Ruinen geborgen hatte.

Es wurden "Klubs der Intelligenz" eingerichtet, Häuser mit gepflegten und - damals keine Selbstverständlichkeit - geheizten Räumen. Der gewöhnliche Berliner störte sich weniger an der Existenz dieser Klubs, mehr an ihrer Bezeichnung. Widersprach es nicht der kommunistischen Ideologie, gerade einer bestimmten, gehobenen Klasse Intelligenz zuzuschreiben? Ebenso fremd wirkte auf uns jedoch die Bezeichnung des Geheimdienstes der USA, CIA. Denn dies ist ja die Abkürzung von Central Intelligence Agency.

Wir Studenten profitierten auch von der Wertschätzung der "Intelligenz". Die agrarwissenschaftliche Fakultät der Humboldt-Universität besaß in der Umgebung Berlins mehrere Güter. Ihr Ertrag wurde an die Studenten verteilt. An einem bestimmten Tag kamen z. B. wir Mathematiker mit Rucksäcken, um 25 kg Kartoffeln in Empfang zu nehmen. Dabei kamen wir an einem Schild vorbei, das mitteilte: Heute Käse für Philosophen. Die unfreiwillige Komik rief viel Schmunzeln hervor.

Die meisten Professoren liefen in gepflegtem, feinem Anzug herum, freilich meist ihrem einzigen. Das gab ihnen einen Hauch von Großbürgerlichkeit. Dieser stand in grellem Kontrast etwa zu den Heimkehrern, gerade aus sowjetischer Kriegsgefangenschaft entlassenen ehemaligen Soldaten. Diese sah man am nahegelegenen Bahnhof Friedrichstraße aussteigen, hohlwangig, bisweilen humpelnd, in dickwattigen, abgeschabten Jacken.

Ein Professor fiel aus dem Rahmen. Es war der international bekannte Zahlentheoretiker Helmut Hasse. Er lief stets in einer umgefärbten Wehrmachtuniform herum. Dies gab ihm ein etwas militantes Gepräge, das seinem ziemlich autoritären Auftreten entsprach.

Eines Morgens traute man seinen Augen nicht. Von der noch stark beschädigten Eingangsfassade der Universität hing ein sich über mehrere Stockwerke erstreckendes Porträt von Professor Erhard Schmidt, dem hoch respektierten "Nestor" der Mathematiker. Der Regen hatte dem Bild arg zugesetzt. Die Wasserfarben lösten sich auf und ließen Tränenbäche aus Schmidts Augen fließen. Die Erklärung des Porträts: Erhard Schmidt hatte gerade eine hohe Auszeichnung erhalten und wurde auf diese für die sowjetische Tradition so typische Art geehrt. Sie knüpfte an die früher bei Prozessionen getragenen Heiligenbilder an.

Ich hatte die Freude, noch eine Vorlesung des bald darauf emeritierten Erhard Schmidt zu erleben. Es fiel auf, dass er zwischendurch gern berlinerte. Es wirkte schon putzig, wenn er etwa sagte: "Ick stell` ma` so`n Parallelopipedon vor", die Silbe pi hierbei betonend.

Der einfache Berliner, wollte er etwas werden, legte Berliner Wendungen rasch ab. Wer aber unbestritten zu den Etablierten gehörte, konnte solche sich leisten. Andere Beispiele waren der Maler Max Liebermann, der Mediziner Ferdinand Sauerbruch und - viel früher - der General "Papa" Wrangel.

Im Februar 1948, härtester Winter, stand ein recht klapprig wirkender junger Mann vor dem zur mathematisch-naturwissenschaftlichen Fakultät führenden Eingang der Universität. Seine langen Haare und "Jesus-Latschen" fielen auf. In der Hand hielt er ein großes Plakat: "Π ist rational. Irrationalität kann nicht Gottes Wille sein. Gott liebt alle Menschen!" Dies stand dort auch in Englisch, Französisch und Russisch. Am unteren Rand des Plakates befand sich ein mit vielen Stempeln versehenes Schreiben der damals noch von allen vier Besatzungsmächten gebildeten sogenannten Alliierten Kommandantura, dass dieses Plakat genehmigt sei.

Zwei Sowjetsoldaten vertieften sich staunend in den Text, ihre Hände tief in ihren weiten Hosen vergraben. Im Mund rollten sie die unvermeidliche Papyrossa, eine Zigarette, deren langes, zur Hälfte hohles Rohr aus Zeitungspapier gedreht und in der Mitte zusammengedrückt war.

Wir Studenten sahen den Auftritt des Plakatträgers mit einer Mischung aus Spott und Respekt. Er war gern bereit, seine These in einem Hörsaal vor Fachleuten zu begründen. Leider wiesen die Professoren das Ansinnen brüsk als unzumutbar zurück. Ein Mordsgaudi entging uns so.

    
behr-a-r@mail.dk