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  Reinhart Behr:   Leben mit Mathematik - Studienjahre -

 Inhalt  Vorwort  I: Rolle der Mathematik  II: Studienjahre  III: Referendariat  IV: Lehrberuf  V: Mathematik im Ruhestand

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noch:

IIa) Beginn des Studiums in schwerer Zeit

Der Vorfall zeigt, dass die hierarchische Struktur des Universitätslebens noch voll intakt war. Schon die Bezeichnungen spiegelten das. Das Universitätsbüro hieß Quästur, der Rektor wurde Magnifizenz angeredet, die Spitze der Fakultät, der Dekan, Spektabilität. Treffend war daher später die Parole der 68er Studentenbewegung "Unter den Talaren - Muff von tausend Jahren!" Solche Talare trugen die Professoren immer noch bei festlichen Anlässen.

An Professoren wandte man sich nur indirekt, über Assistenten. Auch diese hatten eine Rangordnung, vom Hilfsassistenten, dem man wohl auch Schwierigkeiten mit einer Übungsaufgabe mitteilen konnte, bis zum sogenannten Oberassistenten.

Die zu allen Vorlesungen gehörenden Übungsaufgaben wurden von uns gewissenhaft gelöst. Eine gewisse Zahl richtig gelöster Aufgaben war nötig, um ein Semester anerkannt zu bekommen. Es entstanden kleine Arbeitsgruppen von Studenten zur gemeinsamen Lösung der Aufgaben. Man traf sich bei einem Kommilitonen - wie man damals noch sagte - , dessen Wohnung gerade Brennmaterial zur Heizung hatte. Genauer gesagt handelte es sich meist um die Wohnung der Eltern des Studenten, denn Studentenbuden waren in der damals noch halb zerstörten Stadt ein unbekannter Begriff.

Ein Kuriosum aus jener Zeit: Eine solche Gruppe, zu der ich gehörte, arbeitete in dem Wohnzimmer meiner Eltern. In diesem saß, Gemüse putzend, auch meine Mutter. Nach dem Treffen fragte sie mich, was in aller Welt die jungen Leute wohl dauernd mit "Entenwurzeln" gemeint hätten. Sie hatte unser Gespräch mit angehört, bei dem wir ständig von "n. Wurzeln" bei algebraischen Umformungen gesprochen hatten.

Bald erkannte ich übrigens, daß mir diese "Gemeinschaftsarbeit" wenig brachte. Wichtige mathematische Einsichten erhielt ich nie dort, sondern nur bei einsamem Grübeln. Anderen mag es nicht so gegangen sein. Auch später, als Lehrer, sah ich in der Mathematik nie richtig den Gewinn der dann stark propagierten Gruppenarbeit von Schülern.

Einmal im Monat war nach alter Tradition der dies academicus. Statt in den Vorlesungen trafen sich an diesem Tag die Studenten in den Universitätsräumen in zwanglosen Gruppen. Vor allem die Germanisten sprachen dabei über Literatur, besonders die jetzt erst wieder zugängliche der in der Hitlerzeit verbotenen Autoren, und über Theaterereignisse.

Trotz der materiellen Not entwickelte sich nämlich schon wenige Wochen nach Kriegsende ein reges Theaterleben. Jeder Berliner Bezirk hatte sein eigenes kleines Theater. Das erklärt sich schon daraus, dass man zunächst nur unter großen Schwierigkeiten ins Zentrum Berlins gelangen konnte. Denn die meisten Brücken über die Berliner Gewässer waren in den letzten Kriegstagen gesprengt worden.

Die damalige Währung, die Reichsmark, war praktisch nichts wert. In der ersten Zeit war es daher üblich, statt Eintrittsgeldes für die Schauspieler etwa ein Ei oder ein Brikett mitzubringen.

Ständiges Thema bei einem dies academicus waren auch schöne Mädchen anderer Fakultäten, wobei die Theaterwissenschaft Studierenden besonders begehrt waren. Anders meist wir Mathematiker, unter ihnen damals noch kaum Mädchen. Ich entsinne einen solchen Tag, an dem mehrere von uns eng zusammensaßen. Warum? Einer der Studenten hatte gerade ein neu herausgekommenes Buch mit dem Titel "Drei Perlen der Zahlentheorie" entdeckt. Eine dieser Perlen bestand aus der Arbeit eines jungen Rotarmisten, dem es an der Front in seinen freien Stunden gelungen war, der Goldbachschen Vermutung einen großen Schritt näher zu kommen.

Der Soldat - seinen Namen habe ich leider vergessen - konnte beweisen, dass eine Zerlegung in höchstens vier Primzahlen immer möglich ist. Das Thema nahm uns völlig gefangen, trotz - oder vielleicht sogar wegen - der materiellen Not.

Überhaupt zog mich Zahlentheorie stark an. Im ersten (!) Semester belegte ich eine Vorlesung mit dem Titel "Das Entscheidungsproblem der elementaren Zahlentheorie". Rasch bemerkte ich, daß dies vermessen war. Aus dem Wort "elementar" hatte ich fälschlich geschlossen, die Vorlesung müsse wohl elementar verständlich sein. Eine Studentenberatung gab es damals nicht. Man wählte, was ansprach.

Ich verstand von der Vorlesung - fast - nichts. Der Dozent, Schröter, ein reiner Logistiker, versuchte durch schier endlose Reihen formaler Aussagen klarzumachen, dass das Problem der Widerspruchsfreiheit der elementaren Zahlentheorie noch nicht gelöst sei. Die natürlichen Zahlen definierte er durch die Peano-Axiome. Er kam wohl auch auf Gödels Beweis, dass man auf dem Gebiet der natürlichen Zahlen - und weiteren Gebieten - sinnvolle Aussagen aufstellen könne, die mit den Mitteln des Gebietes weder beweisbar noch widerlegbar seien. Selbst das verstand ich aber damals kaum, hilflos die Formelkolonnen betrachtend. Schröter betonte, unter dem Begriff Zahlen dürften wir uns nicht mehr vorstellen als die sie darstellenden Kreidehügelchen auf der Tafel.

Bisweilen schob Schröter spitze Bemerkungen über die marxistischen Philosophen der Humboldt-Universität ein. Das war damals noch möglich! Diese seien zu der von ihm geforderten Präzision ihrer Aussagen nicht imstande.

Die Bedeutung von Gödels Erkenntnis habe ich erst viel später verstanden, als es mir gelang, seinen Beweisgang nachzuvollziehen. Gleichzeitig erkannte ich dann aber auch, daß man einem Neuling Zahlen anders, und zwar aus ihrer Entstehung in der Praxis, vermitteln muss.

Man erwartet sicher näher darüber zu erfahren, wie die Politik auf die Universität einwirkte. Immerhin lag sie ja im sowjetischen Sektor Berlins. Tatsächlich bemerkte man hiervon an der mathematisch-naturwissenschaftlichen Fakultät lange kaum etwas.

Zunehmend schwieriger wurden Forschung und Lehre aber an den anderen Fakultäten. Der Philosophin Lieselotte Richter, Kierkegaard-Expertin, entzog man die Lehrerlaubnis an ihrer Fakultät, fand aber eine merkwürdige Lösung: Sie durfte an der theologischen Fakultät fortsetzen, wo ihre Vorlesungen bald große Popularität erhielten.

    
behr-a-r@mail.dk