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  Reinhart Behr:   Leben mit Mathematik - Studienjahre -

 Inhalt  Vorwort  I: Rolle der Mathematik  II: Studienjahre  III: Referendariat  IV: Lehrberuf  V: Mathematik im Ruhestand

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IIb) Erster Blick über die Mathematik hinaus

Auch ich wurde neugierig und erlebte sie: Eine Frau, alle weiblichen Reize ignorierend, mit kurzem, straff zurückgekämmtem Haar, schleuderte mit Schwung ihre abgenutzte Aktentasche aufs Katheder und sprach so lebendig über Sören Kierkegaard, daß ich Lust bekam, mich näher mit ihm zu beschäftigen.

Frau Richter vermittelte, dass es für Kierkegaard nur unbedingten Glauben gerade an das für intellektuellen Anspruch Absurde gab. Ohne die Bereitschaft zu diesem Glauben solle man Atheist sein. Einen Mittelweg, einen vagen Glauben mit Betonung eher der moralischen und kulturellen Werte seiner Tradition lehnte er als Verfälschung der eigentlichen Botschaft ab. Nur der Einzelne könne sich hier entscheiden. Eine Gemeinschaft, etwa eine christliche Gemeinde, könne ihm diese Entscheidung nicht abnehmen.

Diese Konsequenz sprach mich an und bestärkte mich in meiner unreligiösen Position. Ich hörte, dass Frau Richter Dänisch gelernt hatte, um Kierkegaard, angesichts unzureichender Übersetzungen, im Original lesen zu können. Diesen Anspruch stellte ich auch und begann nun selbst Dänisch zu lernen. Ein Beschluß mit weitreichenden Folgen. Ich beschäftigte mich mit wachsender Begeisterung mit dänischer Kultur, vor allem Kulturgeschichte.

Hierbei kam ich, je mehr ich den Unterschied zur deutschen Kulturgeschichte erkannte, zu einem überraschenden Resultat. Kierkegaard ist eigentlich geistig mehr Deutscher als Däne mit seiner Kompromisslosigkeit. Je mehr Dänen ich kennen lernte, desto mehr erlebte ich bei ihnen ein Ausweichen vor tief schürfenden Betrachtungen und das Suchen eines Kompromisses.

Als ich - viel später - heiratete, wählte ich - nicht überraschend - eine Dänin. Sie war offen für diese - wie ich meinte - eher deutsche Neigung, entschieden Stellung zu beziehen. Der geistige Austausch mit ihr ist für uns beide bis heute fruchtbar.

Der Besuch der Vorlesung von Frau Richter war damals mein einziger Blick über den Horizont von Mathematik und Naturwissenschaft hinaus.

Allen Studenten gemeinsam war ein Leben, das man sich heute kaum mehr vorstellen kann. Es gab - wie erwähnt - so gut wie keine Studenten-"Buden", ebenso wenig wie Studentenkneipen. Ja, auch Studentenjobs waren praktisch unbekannt. Was sollte einen Studenten auch veranlassen zu "jobben"? Der Lohn wurde doch in der fast wertlosen Reichsmark ausbezahlt.

Studenten, selbst wenn sie sich von gemeinsamen Vorlesungen kannten, siezten einander in der Regel. Nicht vergessen werde ich hierzu einen Besuch der Mensa der Humboldt-Universität. Ich hatte gerade meine Mahlzeit bestellt, als ein freundlicher, kräftiger junger Mann sich neben mich setzte, mit dem Ellbogen anstieß und fragte: "Sag` mal, was gibt`s denn heute?" Ich wurde etwas bleich ob dieser ungewohnten Anrede und antwortete dann in einer wohl etwas steifen Freundlichkeit, die vielleicht ganz unbeabsichtigt arrogant gewirkt haben mag.

Ich erinnerte mich - zu spät - , dass mehr und mehr Studenten aus einem "proletarischen" Elternhaus die Universität besuchten. Diese Studenten hatten statt des Gymnasiums spezielle "Arbeiter- und Bauern"-Förderkurse durchlaufen, in der sicher richtigen Annahme, dass sie sonst kaum die Chance einer akademischen Laufbahn haben würden.

Das Studium nahm die meiste Zeit des Tages ein. Selbst von 20 bis 22 Uhr fanden wichtige Vorlesungen statt. Jüngere Leser wittern hier die bekannte Litanei der älteren Generation: "Wir haben noch gearbeitet!" Eine solche Haltung liegt mir fern . Die intensive Studienarbeit erklärt sich zumeist einfach dadurch, dass die später so zahlreichen Zerstreuungsmöglichkeiten überhaupt noch nicht existierten.

1948 fand nach Abschluß des Sommersemesters eine Gastvorlesung von Professor Friedrich Karl Schmidt aus Münster statt. Trotz des heißen Spätsommers war der Hörsaal überfüllt. Kein Wunder, denn der Dozent vermochte wie sonst wohl keiner zu fesseln. Das Thema war die Galoissche Theorie. Höhepunkt und Abschluß der Vorlesung war der elegante Beweis der Unmöglichkeit der Würfelverdopplung und Winkeldreiteilung mit Zirkel und Lineal. Das Trampeln und Klopfen der begeisterten Zuhörer, die den wahrhaft aufregenden Weg zu diesem Ziel verfolgt hatten, ist mir unvergessen.

    
behr-a-r@mail.dk