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  Reinhart Behr:   Leben mit Mathematik - IV Erfahrungen ... -

 Inhalt  Vorwort  I: Rolle der Mathematik  II: Studienjahre  III: Referendariat  IV: Lehrberuf  V: Mathematik im Ruhestand

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IV Erfahrungen als selbstverantwortlicher Mathematiklehrer

a) Kurzer Blick auf den beruflichen Werdegang

Welche Erleichterung war es, nun als Lehrer arbeiten zu können, ohne ständig beobachtet und beurteilt zu werden! Endlich konnte man die eigene Persönlichkeit einbringen.

Es kann den Leser nicht interessieren, wann hiernach welche Stufe der Beamtenlaufbahn - mit dem damit verbundenen Gehaltszuwachs - erklommen wurde. Erwähnt sei nur, dass diese Laufbahn ihren Abschluss mit der Ernennung zum Studiendirektor fand.

Dänischen Lehrern kann man die Bedeutung dieser Stufenleiter mit ihren bombastischen Titeln kaum vermitteln. De facto bedeutete die Bezeichnung Studiendirektor nichts anderes als die Funktion eines Fachbereichsleiters, in meinem Falle für die Mathematik an meiner Schule. Die "Leitung" bestand im wesentlichen darin, die Arbeit der Mathematik-Lehrer zu koordinieren, auf die Einhaltung der Lehrpläne zu achten, bei Konflikten zwischen Lehrern und Schülern oder Eltern zu vermitteln, die Fachkonferenzen zu leiten und die Verwaltungsaufgaben im Fachbereich zu übernehmen.

Manche Fachbereichsleiter sahen ihre Aufgabe aber auch darin, als verlängerter Arm der Schulleitung Kontrollfunktionen auszuüben.

Die Fachbereichsleiterstellen wurden in den siebziger Jahren eingeführt. Es gab zunächst Bestrebungen, die Funktion durch einen Lehrer ausüben zu lassen, der aus der Mitte seiner Kollegen für eine begrenzte Zeit gewählt wird. Dieser solle kein höheres Gehalt bekommen, aber für seine Arbeit beim Unterricht entlastet werden.

Dieser auch von mir unterstützte Gedanke setzte sich nicht durch, erstens wegen Widerstands der Obrigkeit, zweitens wohl weil die höhere Gehaltsstufe doch die Bewerber lockte.

Entsprechende Bemühungen, sogar die Stelle eines Schulleiters in dieser Weise zu besetzen, scheiterten aus denselben Gründen.

Eine Chance, die Schule "von unten" zu gestalten, war so vertan. Auf S. 28 wurde bereits auf solche Möglichkeiten am Beispiel Dänemarks hingewiesen.

Zum persönlichen Weg als Lehrer nur so viel, dass ich als selbständiger Lehrer an der Schule übernommen wurde, in der ich ausgebildet worden war, der Beethoven-Schule in Berlin-Lankwitz. Sie verließ ich erst, als ich 1988 in Pension ging.

34 Jahre lang war dies also meine Schule. Warum versuchte ich nie, die Schule zu wechseln? Steckt dahinter Angst davor, in einem anderen Umfeld vielleicht nicht zu bestehen? Ich lasse die Frage offen.

Es gibt bekanntlich auch die Behauptung, dass schon der Entschluss zum Lehrerberuf von einer Angst vor neuen Anforderungen zeugt. Denn ein Lehrer verlässt ja nie das Milieu, das er als Schüler kannte. Hierzu kommt noch, dass ein Lehrer ja - im Gegensatz zu den meisten anderen Berufen - stets Menschen gegenübersteht, die ihm unterlegen sind, allein schon durch ihr i. a. geringeres Wissen.

Bestreiten kann ich nicht, dass der Gedanke an eine Veränderung um so seltener wurde, je länger ich an der vertrauten Schule war. Hatte man doch allmählich eine Stellung erlangt, die man nur ungern missen mochte.

IV b) Grundsätzliches zum Mathematik-Unterricht

Beim Beginn des eigenverantwortlichen Unterrichts stellte ich mir schon grundsätzliche Fragen:

   a) Wer unterrichtet Mathematik?
    b) Wie wird Mathematik unterrichtet?
   c) Welche Vorstellungen gab es von der Aufgabe des Mathematik-Unterrichts?
   d) Wie sollte künftiger Mathematik-Unterricht aussehen?

Diese Fragen begleiteten mich durch meine jahrzehntelange Praxis. Auf diese stützen sich meine im folgenden vorgestellten Antworten. Die Antwort auf die letzte Frage wird - etwas pathetisch formuliert - ein Vermächtnis. Wenn von ihm etwas in Diskussionen über künftigen Unterricht eingehen sollte, wäre schon viel gewonnen.

Wer unterrichtet Mathematik?

Es seien verschiedene Mathematiklehrer-Typen vorgestellt, denen ich in meiner Praxis begegnet bin. Es sind Prototypen, in der Realität nur selten so ausgeprägt. Die meisten Lehrer standen sicherlich zwischen ihnen.

- Der militante Typ. Er schafft Distanz um sich, spricht oft mit "schneidender" Stimme, die er wegen seiner autoritären Ausstrahlung nur selten zum Brüllen steigern muss, aber dann um so wirksamer ist. In seinem Unterricht werden nur selten grundsätzliche, allenfalls rein technische Fragen gestellt. Die meisten Schüler haben Angst vor ihm.

Dieser Lehrer ist der Meinung, bei ihm (oft meint er damit, nur bei ihm) werde etwas verlangt. Erst im Rückblick würden die Schüler für seinen Unterricht dankbar sein. Er ist stolz darauf, einem großen Teil der Schüler schlechte Noten zu geben. Andere Lehrer seien lediglich zu "schlapp" dazu.

Ein Kollege berichtete mir von seiner Vorstellung beim Schulleiter vor der ersten Unterrichtsstunde seines Lebens. Der Schulleiter, ein extremer Repräsentant des beschriebenen Typs, sagte zu ihm: "Sie gehen nun zur Klasse 7b, reißen die Tür auf und verharren einige Sekunden, den Blick über die Schüler schweifen lassend. Dann gehen Sie auf den Schüler ganz links in der zweiten Reihe zu und geben diesem eine schallende Ohrfeige mit den Worten: "Du hast geredet!" Ich versichere Ihnen, dass Sie hiernach eiserne (!) Disziplin haben werden."

Schüchterne Frage des jungen Lehrers: "Wer ist denn dieser Schüler? Kennen Sie ihn als Störer?" Antwort: "Natürlich nicht, das ist doch auch völlig unwichtig!"

- Der ängstliche Typ. Er gibt seine Angst durch Körperhaltung und Sprache zu erkennen. Er brüllt oft die ganze Klasse an, was ohne Wirkung bleibt. Denn dies wird bald als Zeichen von Hilflosigkeit erkannt. Die Schüler merken, dass sie den Lehrer durch lautes, andauerndes Protestieren zur Änderung von gerade Angeordnetem bringen können.

- Der Gelehrten-Typ. Er wird wegen seines theoretischen Anspruchs, gepaart mit didaktischem Ungeschick, nur von wenigen verstanden. Mit diesen arbeitet er und ist froh, wenn ihn die anderen hierbei nicht stören.

Dieser Lehrer wäre gern Forscher geworden, statt nun "zu Kreide und Schwamm greifen zu müssen". Er empfindet also den Lehrberuf als einen Abstieg ins Banale. Dies zeigt sich oft, aber keineswegs immer, durch Arroganz. An den wenigen Schülern, die er inspiriert, richtet sich dieser Lehrer auf.

- Der Pfadfinder-Typ. Er möchte von den Schülern ebenso sehr als Freund wie als Führer erfahren werden, widmet ihnen viel Zeit über das Nötige hinaus. Manche Schüler sehen ihn als einen Menschen, für den sie "durchs Feuer gehen" würden. Gegenüber Jungen hat sein Verhalten eine - ihm selbst meist nicht bewusste - homoerotische Komponente.

- Der "Softie". Es ist der oft auch in Erinnerung an die Studentenbewegung als Achtundsechziger bezeichnete Typ, äußerlich erkennbar durch Bart und Strickpullover. Er ist bewusst antiautoritär und lässt sich von den Schülern duzen, sofern dem nicht eine Verordnung entgegensteht. Inhalt und Form des Unterrichts diskutiert dieser Lehrer ausführlich, auch die geplanten Zeugnisnoten. Einige Schüler missbrauchen seine Geduld. Sie arbeiten wenig mit, in der Erwartung, er werde ihnen das Erarbeitete immer wieder erklären. Bei geringen Erfolgen der Schüler sucht er den Grund zunächst bei sich selbst.

Lehrer, die auf die Anrede "Sie" Wert legen, werfen diesem Lehrer - sicher meist zu Unrecht - vor, sich bei den Schülern im Kontrast zu den Kollegen beliebt machen zu wollen. Auch dieser Lehrer kann letztlich Zensuren, welche die Versetzung gefährden, nicht vermeiden. Denn er muss seine Maßstäbe auch verantworten. Dann wird er aber von Schülern oft scharf verurteilt, weil er ihre Erwartungen enttäuscht habe.

    
behr-a-r@mail.dk