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  Reinhart Behr:   Leben mit Mathematik - III Auf dem Wege ... -

 Inhalt  Vorwort  I: Rolle der Mathematik  II: Studienjahre  III: Referendariat  IV: Lehrberuf  V: Mathematik im Ruhestand

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noch IIIc) Die Seminarausbildung

Als in den siebziger Jahren die überall in Westeuropa sich ausbreitende Studentenbewegung auch auf die Schulen übergriff, sah man in keinem anderen Land so wie in Deutschland die ganze Gesellschaft durch den Einfluss staatskritischer Lehrer auf die Schüler bedroht.

Man meinte, durch ein ausgeklügeltes System von Kontrollen gegensteuern zu müssen. Bekanntlich kulminierte das in peinlichen Befragungen besonders der angehenden Lehrer auf ihre Staatstreue, teilweise mit Berufsverbot als Folge.

In Dänemark war dies undenkbar, und Berufsverbot ist als abschreckendes Fremdwort sogar in die dänische Sprache gelangt. Man war in Dänemark überzeugt, dass Auswüchse der Bewegung, die es auch dort gab, in einer Selbstregulierung "von unten" überwunden würden. Dies bestätigte sich vollauf.

Hier muß man sich aber hüten, das Problem der Unterrichtswirklichkeit zu einfach zu sehen. Historisch gesehen ist Deutschland - im Gegensatz zu Dänemark - eine späte Demokratie, was vieles erklären mag. Aber es ist nicht zu bestreiten, dass z. B. in einem anderen Land mit langer Erfahrung in Demokratie, Frankreich, dennoch bis heute der Unterricht zentral organisiert, rein auf Leistung orientiert und von neuen didaktischen Erkenntnissen kaum berührt verläuft, in viel größerem Umfang als in Deutschland.

Aus meiner Seminarzeit ist mir jedoch auch Positives in Erinnerung. Ein Beispiel: Für eine Lehrprobe wurde von uns ein formloser Unterrichtsentwurf, etwa im Umfang einer Seite, verlangt. Dieser sollte natürlich den geplanten Weg beschreiben, aber in ungegliederter Form. Unfassbar waren mir daher die Lehrprobenentwürfe, welche mir später Referendare zeigten. Sie waren nicht selten zwanzig Seiten lang und beschrieben den geplanten Verlauf kleinschrittig in einer - in meinen Augen - pseudowissenschaftlichen Terminologie.

Warum wurde dies üblich? Mein Erklärungsversuch mag manchem ungerecht erscheinen. Ich gewann aber den Eindruck, dass die Didaktik im Laufe der Jahrzehnte immer mehr Gewicht bekam, was ein Gewinn sein kann. Aber dies bedeutete, dass immer mehr Lehrstühle für Didaktik eingerichtet wurden, die gegenüber den Lehrstühlen anderer Gebiete öffentlich gerechtfertigt werden mussten.

Dies meinte man offenbar dadurch zu erreichen, dass man der Didaktik bis in die Terminologie hinein einen wissenschaftlichen Anstrich gab, der ihrer Natur kaum gerecht wird. (S. hierzu die Bemerkung im Vorwort über didaktische Veröffentlichungen heute.) Man erkannte so nicht mehr den Funken eines engagierten Lehrers, der einst das Ziel von Didaktikern wie Wagenschein, Wittenberg und Freudenthal war. Diese wären - wie ich vermute - über die neuen Unterrichtsentwürfe entsetzt gewesen.

Mit dieser Beschreibung soll kein pauschales Urteil über die deutschen Studienseminare abgegeben werden. Immer wieder gab und gibt es Seminarleiter, welche sich um ein anderes Klima in ihren Seminaren bemühen, ja Sinn und Realität der Seminare grundsätzlich reflektieren. Hierbei finden sie heute jedoch nur wenig Resonanz bei den Auszubildenden. Deren Sorge ist - verständlicherweise - oft allein, eine guten Abschluß und damit eine Chance auf eine Stelle als Lehrer zu bekommen.

Dem entspricht, dass auch die Schüler heute - anders als in der Zeit der Studentenbewegung - nur selten Art und Inhalt des Unterrichts hinterfragen. Hierzu später mehr. Nicht grundsätzlich, eher halb resigniert, fragten schon in meinen ersten Jahren als Lehrer immer wieder gelegentlich Schüler: "Warum lernen wir eigentlich dies alles?"

"Tiefen Eindruck" würde es wohl bei den Schülern machen, wenn man hier den bereits erwähnten Mathematiker Helmut Hasse zitieren würde. Er sagte bei seiner Antrittsvorlesung 1950 an der Hamburger Universität: "Die Mathematik ist die erhabenste Betätigung des menschlichen Geistes, sie hat Einfluss auf die Formung edelster menschlicher Eigernschaften."

Lehrer mit Neigung zu Sarkasmus antworten den Schülern: "Ihr lernt dies, damit Ihr die Chance bekommt, selbst einmal Lehrer für Mathematik zu werden. Dann könnt Ihr diese an die nächste Generation weitergeben, die auch diese Frage stellen wird!" Die schwächste Antwort - auch diese habe ich schon gehört - lautet: "Ihr lernt dies, weil der Stoffplan das vorsieht."

Man kann Schülern durchaus vermitteln, dass Stoffpläne nicht etwas Statisches sind. Man kann ihnen berichten, dass die Stoffpläne immer wieder Veränderungen erfuhren und welche Gründe dies hatte.

Hier muss vorausgehen, dass der Lehrer selbst die Stoffpläne reflektiert, ja ggf. den Schülern auch sagt, was er an diesen für überholt hält.

Im Mathematik-Seminar war die Begegnung mit Martin Hengst für meine weitere Entwicklung wichtig. Er war rund zwanzig Jahre älter als wir anderen. Warum begann er seine Ausbildung so spät?

Er hatte schon 1933 das erste Staatsexamen abgelegt, wie ich in Mathematik und Physik. Da er in der kommunistischen Studentengruppe der Berliner Universität aktiv gewesen war, erhielt er nach der Machtergreifung Hitlers keine Zulassung zu einem Studienseminar. Wegen Widerstandsarbeit wurde er zu einer langjährigen Zuchthausstrafe verurteilt, die er im Zuchthaus Brandenburg zusammen mit Robert Havemann verbüßte. Bei Kriegsende wurden beide von der Sowjetarmee befreit.



Martin Hengst begann eine Leitungstätigkeit beim Magistrat von Berlin, später Ostberlin. Der immer größere Kontrast dort zwischen Anspruch und Wirklichkeit führte ihn zum Bruch mit der SED und zum Umzug nach Westberlin. Nun begann er die schon 1933 geplante Ausbildung zum Gymnasiallehrer.

Er hatte eine umfassende Kenntnis aller Zweige der Naturwissenschaften und gleichzeitig, so wie Havemann marxistisch geschult, gründlich deren Entstehung und Funktion in der Gesellschaft reflektiert. Beide waren daher überzeugt, dass man als Forscher ebenso wie als Lehrender eine gesellschaftliche Verantwortung habe, der man sich nicht entziehen dürfe. Welche Konsequenz das für den in der DDR verbliebenen Havemann hatte, ist bekannt.

Durch Martin Hengst erkannte ich die Bedeutung des in der offiziellen Politik der DDR geradezu ins Gegenteil verkehrten Begriffs Dialektik, nämlich zum Verstehen der Entwicklung unserer Erkenntnis. Hierauf wird später, bei der Vorstellung meiner Gedanken zur Vermittlung der Mathematik an Schüler, näher eingegangen.

Während der Zeit der Seminarausbildung hatte ich das Glück, schon eigenverantwortlichen Unterricht in der Mathematik zu erteilen. Ein Beispiel hieraus:

Im Lehrplan war die Behandlung der Abbildungsgeometrie vorgesehen. Es reizte mich, schon einen Einblick in einen wichtigen Zug der Mathematik zu geben, nämlich gemeinsame Strukturen in scheinbar ganz verschiedenen Gebieten aufzuweisen.

Hierzu untersuchte ich mit den Schülern - über das Obligatorische hinaus - die Eigenschaften von Drehungen um einen Fixpunkt. Zwei Drehungen, hintereinander ausgeführt, lassen sich durch eine einzige Drehung ersetzen.

Konkret wurden Drehungen um k-mal den zwölften Teil des Vollwinkels, kurz Dk genannt, untersucht. Veranschaulichen ließ sich dies durch das Vorrücken des kleinen Zeigers einer Uhr um volle Stunden.

Die Schüler fanden nun leicht selbst, dass etwa D5 kombiniert mit D9 durch D2 ersetzt werden konnte. Vereinfacht ließ sich nun schreiben 5 + 9 = 2. Da ja aber keine gewöhnliche Addition natürlicher Zahlen vorliegt - bei dieser wäre die Aussage falsch - wurde ein besonderes Additionssymbol eingeführt, ^+, so dass man schrieb: 5 ^+ 9 = 2. Andere Beispiele ergaben sich.

Arithmetisch zeigte sich: Die neue Addition wurde nur an den natürlichen Zahlen bis 11 - einschließlich der Null - ausgeführt und bedeutete, dass nach der üblichen Addition der Rest bei Division durch 12 stehen blieb.

Nach Einführung der "Addition" lag die Frage nach dem Sinn einer "Multiplikation" nahe. Hierzu galt es bewußt zu machen, was diese in der vertrauten Arithmetik bedeute. 4.7 etwa ist nichts anderes als die Summe von vier Gliedern, die alle 7 lauten. Dies ließ sich nun übertragen: 4 ^.7 = 7 ^+ 7 ^+ 7 ^+ 7.

Nun lag es nahe, nach der Lösung einfacher Gleichungen wie 3 ^. x = 11 zu fragen. Die Schüler entdeckten selbst, dass diese Gleichung gar keine Lösung besaß, 3 ^. x = 9 hingegen sogar mehrere. Die Gründe hierfür galt es zu finden.

Diese neue Form des Rechnens hatte für die Schüler wegen des zunächst paradox erscheinenden Resultats ihren Reiz. Schnell erkannte ich: Die Arbeitslust wäre bald verschwunden, wenn ich hier schon mathematische Fachausdrücke eingeführt hätte wie etwa den Gruppenbegriff mit seinen Axiomen. Ebenso vermied ich Hinweise auf den ja hier vorliegenden Begriff des Restklassenkörpers modulo 12. Ich gewann eine Einsicht, die später mehr und mehr meinen Unterricht prägte. Fachausdrücke sind für einen Mathematiker als Arbeitsmittel unentbehrlich, sie helfen aber dem Lernenden nicht zum Verstehen mathematischer Zusammenhänge. Zu diesem verhilft man ihnen dadurch, dass man den Sinn des schon Vertrauten - in einfacher Sprache ausgedrückt - bewußt macht und behutsam verallgemeinert.

Die hier gesammelten Unterrichtserfahrungen fasste ich in meiner schriftlichen Hausarbeit für das zweite Staatsexamen zusammen. Zu diesem Examen gehörte auch eine Prüfung in allgemeiner Pädagogik. Für diese gab man einen Autor an, mit dem sich besonders beschäftigt hatte. Ich nannte N. F. S. Grundtvig, auf den die Idee der dänischen Volkshochschule zurückging, die dann Vorbild für andere Länder wurde. Dies lag bei meinem Interesse für die Kultur Dänemarks nahe.

Es sei jedoch nicht verschwiegen, dass ich Grundtvig auch aus einem anderen Grunde wählte: Ich hatte bemerkt, dass die Prüfer mit ihm nicht vertraut waren. Ein Überprüfen meiner Kenntnisse würde mir daher erspart bleiben.

Nach bestandenem zweitem Staatsexamen wurden uns Seminarteilnehmern damals (1956) ohne Ausnahme Plätze an Schulen angeboten, man konnte sogar wählen.

    
behr-a-r@mail.dk