Startseite  Bücher  Aufsätze  Seitenplan  Stichwörter  Über mich  Bilder  e-mail

  Reinhart Behr:   Leben mit Mathematik - III Auf dem Wege ... -

 Inhalt  Vorwort  I: Rolle der Mathematik  II: Studienjahre  III: Referendariat  IV: Lehrberuf  V: Mathematik im Ruhestand

leben

 vorherige

 nächste S.

III c) Die Seminarausbildung

Nach einem Jahr erhielt ich einen Platz in einem Studienseminar und wurde in einer Eideszeremonie zum Studienreferendar ernannt. Dieser Titel bedeutete mir gar nichts, ebenso wie die dann folgenden Titel der Beamtenlaufbahn. (Ein mit dem Bamtenrecht Vertrauter wird sofort protestieren: Es handele sich nicht um Titel, sondern um Dienstgrad-Bezeichnungen!)

Es mag ein Kennzeichen einer Großstadt wie Berlin sein, dass die anderen Seminarteilnehmer so wie ich empfanden. In den kleineren Städten Westdeutschlands redeten die Gymnasialschüler artig ihre Lehrer Herr Studienassessor, Studienrat oder Oberstudienrat an, die Lehrerinnen entsprechend. In Berlin hingegen war dies nicht einmal üblich, als ich noch Schüler war.

Meine Großmutter in Lüneburg jedoch teilte ihrer Umgebung stets stolz mit, wenn ich die nächste Sprosse der Beamtenhierarchie erklommen hatte. Gern hätte sie sich auch damit geschmückt, dass ich den Doktortitel errungen hätte. Ich sagte ihr einmal zornig, dass ich nicht zur Promovierung bereit sei, nur um ihr einen Gefallen zu tun.

In der Provinz war noch die Vorstellung lebendig, ein Beamter sei "dem Staat" durch ein besonderes, gegenseitiges Treueverhältnis verbunden. Wir empfanden dieses als Leerformel. Ihre Funktion wurde freilich erst im Zuge der Studentenbewegung ab 1968 reflektiert.

In zwei Jahren sollte man nun im Studienseminar darauf vorbereitet werden, ein selbständiger Lehrer zu sein. Allgemeine Pädagogik, ihre verschiedenen Strömungen und ihre Geschichte wurden im Hauptseminar behandelt.

Hier erfuhr ich mehr über den schon S. 25 erwähnten Schulreformer Fritz Karsen. Er hatte in den zwanziger Jahren das Konzept einer Gesamtschule erarbeitet, und zwar in Zusammenarbeit mit einem anderen Schulreformer, Paul Östreich. Beide zerstritten sich, da Östreich - im Gegensatz zu Karsen ausgebildet in Mathematik und Physik! - meinte, die Idee einer Gesamtschule sei theoretisch noch nicht genügend durchdacht. Karsen hingegen wollte sofort mit einer solchen beginnen. "Try and Error" als Richtschnur sei ausreichend. Damit entsprach er nach seiner Emigration in die USA dem dort dominanten Pragmatismus. Östreich hingegen ließ sich von dem theorielastigen Gesellschaftskonzept der Marxisten faszinieren. Nach schweren Jahren unter dem Nationalsozialismus ging er in die SED. Der Zufall wollte es, dass er bei meinem Abitur 1947 als Schulrat Prüfungsvorsitzender war. "Try and Error", ja geradezu eine Theoriefeindlichkeit prägten später die dänischen alternativen Tvind- Schulen, auf die noch eingegangen wird.

Zu jedem Unterrichtsfach gab es ein Fachseminar. Dort lernte man eine Menge über Didaktik und Methodik des im Unterricht zu Behandelnden. Dessen Inhalt jedoch wurde kaum auf seine Berechtigung untersucht. Erst einige der späteren Seminare zur Zeit der Studentenbewegung stellten gerade dies in den Vordergrund.

Typisch für das Mathematik-Seminar war, dass Fragen wie etwa die folgenden einen breiten Ram einnahmen:
   - Soll die Geometrie über den Abbildungsbegriff oder mit Hilfe der Euklidischen Axiome entwickelt werden?
   - Soll die Trigonomtrie am rechtwinkligen Dreieck oder am Einheitskreis eingeführt werden?

Bei allen gefürchtet waren die Lehrproben. Es waren Unterrichtsstunden, die man in Anwesenheit des Leiters und der übrigen Teilnehmer des Fachseminars durchführen musste, in der Regel in einer Klasse des Leiters. Dadurch waren einem die Schüler fremd. Man hatte noch keine Gelegenheit gehabt, in eigenem, nicht kontrolliertem Unterricht ein Vertrauensverhältnis zu ihnen aufzubauen. Von Vorteil war allenfalls, dass man so keine "Disziplinschwierigkeiten" hatte.



In der Stunde bemerkte man, dass der Leiter sich Notizen zum Unterrichtsverlauf machte. Das nahm jeden Rest von Unbefangenheit. Ängstlich blickte man zur Uhr und entdeckte zumeist, dass man das Geplante bis zum Stundenende kaum erreichen würde.

Aber erst die anschließende Besprechung der Stunde war das am meisten Gefürchtete. Einer unreflektierten Tradition folgend wurde man, bevor der Leiter sich äußerte, stets zunächst um eine Einschätzung der eigenen Leistung gebeten. Eine positive Beurteilung würde wohl kaum auf die erwartete selbstkritische Einsicht schließen lassen. Zu einem solchen Bild der Stunde war allerdings auch objektiv meist wenig Grund vorhanden. Aber ein zähneknirschendes Suchen nach eigenen Fehlern, die vielleicht den anderen noch gar nicht aufgefallen waren, nützte wohl auch wenig.

Beklemmend war zudem, dass diese Lehrproben eine "Note" erhielten, die das Schlussurteil beim zweiten Staatsexamen mit bestimmte. Im Rückblick ist mir um so mehr die Vorstellung unverständlich, dieses jeder psychologischen Einsicht strotzende Vorgehen könne eine Hilfe für den künftigen Lehrer sein. Ich begegnete immer wieder Lehrern, welche die Zeit ihrer Seminarausbildung als sehr demütigend erfahren haben. So krass war meine Erfahrung jedoch nicht.

Wie sollte aber eine bessere Ausbildung aussehen? Nach meiner Ansicht sollten Anfänger einander gegenseitig im Unterricht besuchen und dann unbefangen und solidarisch über Stärken und Schwächen diskutieren. Hierzu sollten sie "gestandene", selbst gewählte Lehrer heranziehen, die ihnen durch ihre Erfahrung eine Hilfe sein könnten.. Diese müssten natürlich wegen ihrer Beratungsarbeit bei ihrer Unterrichtstätigkeit angemessen entlastet werden. Man würde bald herausfinden, welche Lehrer hierfür besonders geeignet sind. Diese Lehrer könnten dann beim Abschluss der Ausbildung zur Urteilsbildung herangezogen werden.

Lernen, ein guter Lehrer zu sein, ist ein lebenslanger Prozeß. Deshalb wäre es ein Gewinn, wenn Lehrer einander, so lange sie unterrichten, im Unterricht besuchten. Hierzu gab es in den siebziger Jahren an meiner Schule viel versprechende Ansätze. Sie verliefen aber schließlich im Sande, nicht zuletzt weil der Unterricht und der immer mehr zunehmende Formalismus der Schulwirklichkeit alle Energie beanspruchte.

Hier wird ein grundsätzliches Problem berührt. In Deutschland hatte die Vorstellung eine lange Tradition, Druck und Kontrolle "von oben" seien unabdingbar, um ein angestrebtes Niveau zu erreichen. Es fehlte das Vertrauen in eine Selbstorganisation, eine Entwicklung "von unten" her

Lehrreich für mich wurde später ein Blick in die Verhältnisse Dänemarks. Dort ist die Kontrolle der Lehrer, verglichen mit Deutschland, minimal. Dies ermöglicht eine in Deutschland kaum vorstellbare Gestaltung der Schule von unten.

Dem entspricht auch, dass Angstfreiheit Voraussetzung der Schulbildung ist. In den ersten vier Schuljahren gibt es keine Zensuren, und selbst danach haben diese nicht in erster Linie die Funktion eines Druckmittels. Ein Nottelefon für Schüler, die mit ihrem Zeugnis nicht vor die Eltern zu treten wagen, ist in Dänemark unbekannt, weil unnötig.

Sicher sehr deutsch und von Dänen kaum verstanden ist die Sorge, ob hierdurch nicht ein Mißbrauch dieser Freiheit und damit ein geringes Niveau bei Lehrern sowohl wie bei Schülern die Folge sein müsste.

    
behr-a-r@mail.dk