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  Reinhart Behr:   Leben mit Mathematik - IV Erfahrungen ... -

 Inhalt  Vorwort  I: Rolle der Mathematik  II: Studienjahre  III: Referendariat  IV: Lehrberuf  V: Mathematik im Ruhestand

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noch IV b) Grundsätzliches zum Mathematik-Unterricht

Die meisten dieser Lehrertypen erfahren Schüler heute kaum mehr. Sie spiegeln eine überholte Zeit. Das Verhältnis zwischen Schüler und Lehrer ist zudem ein anderes geworden. Denn der Wissensvorsprung des Lehrers ist, besonders durch das zunehmende Gewicht der elektronischen Mittel, geringer geworden. Ein Lehrer erfährt heute nicht selten, dass sogar ein "schwacher" Schüler ihm in der praktischen Fähigkeit am Computer überlegen ist. Das beruht oft nicht nur auf größerer praktischer Erfahrung, sondern auch auf größerem Talent, die komplexen Zusammenhänge am Computer zu verstehen. Zeigt dies nicht, dass der traditionelle Unterricht oft wenig geeignet ist, Talente zu entdecken?

Bisher wurde nicht speziell auf weibliche Schüler und Lehrer eingegangen. Selbst heute hört man bisweilen noch, Mädchen seien in der Regel für das in der Mathematik nötige abstrakte Denken "zu dumm". Manche Lehrer ermutigen - nicht selten unbewusst - die meist eher mündlich aktiven Jungen, aber geben bisweilen Mädchen, dies ausdrücklich betonend, "auch eine Chance". Sie entmutigen so - sicher unbeabsichtigt - diese um so mehr.

Oft zeigte sich mir, dass Mädchen nach mehreren Jahren Unterricht den Jungen durch größere Sorgfalt und Ausdrucksfähigkeit im Schriftlichen überlegen waren. Vom Thema gepackt waren aber zumeist eher Jungen als Mädchen. Diese sahen oft - auch bei hervorragenden Leistungen - nicht den Sinn mathematischer Arbeit.

Lehrerinnen hatten nach meiner Erfahrung meist einen schwereren Stand als männliche Lehrer. Das galt insbesondere, wenn sie in Stimmlage und "Körpergewicht" nicht konkurrieren konnten. Leichter hatten es stets sportlich erfahrene und dadurch respektierte Lehrerinnen. Je länger der Unterricht dauerte, desto mehr erkannten fast alle Schüler jedoch die Vordergründigkeit eines an der äußeren Erscheinung gewonnenen Urteils.

Welche Lehrer hatten im Unterricht die größten Schwierigkeiten? Meine Erfahrung: Ganz unabhängig davon, welchem der beschriebenen Typen sie am nächsten kamen, waren es Lehrers, bei denen die Schüler eine der folgenden Schwächen entdeckten:

- Didaktisches Ungeschick, das der Lehrer selbst nicht bemerkt.
- Unehrlichkeit. Der Lehrer ist nicht bereit, offensichtliche Wissenslücken oder Fehler in einer Sache oder in der Beurteilung eines Schülers zuzugeben.
- Ungerechtigkeit. Der Lehrer bevorzugt - in den Augen der Schüler - bestimmte Schüler, vielleicht gar, weil diese es verstehen, sich beim Lehrer beliebt zu machen.
- Feigheit. Der Lehrer beugt sich Weisungen "von oben" und heuchelt offensichtlich, wenn er diese als richtig verteidigt.

Die zuletzt erwähnte Schwäche mussten Schüler besonders beim Unterricht in der DDR erfahren. Schüler neigen zu moralischer Rigorosität und unterschätzen oft die schwierige Lage eines Lehrers. Es gab aber beim Unterricht in der DDR auch Situationen, bei denen ein unausgesprochenes Einvernehmen zwischen Schülern und Lehrern bestand. Man wusste, dass der Lehrer bestimmte offizielle Standpunkte vortragen musste, und akzeptierte das als aufgezwungen. Das gelang aber nur, wenn der Lehrer sonst als gerecht erfahren wurde.

Es liegt die Frage nach eigenen Unterrichts-Schwierigkeiten nahe. Diese bestanden nur selten, was ich aber nicht auf besonderes pädagogisches Geschick zurückführen will.

Zum einen - das gilt natürlich für alle Mathematiklehrer - bietet das Fach einen Vorteil. Schüler begreifen bald, dass es sich rächt, wenn man nicht kontinuierlich mitarbeitet. Eins baut auf das andere, und Kenntnislücken sind daher - anders als in den meisten anderen Fächern - nur schwer zu beseitigen.

Zum anderen war die Arbeit an einem Gymnasium wegen seines Leistungsanspruch, unterstützt durch die Eltern, verhältnismäßig leicht. Ich weiß nicht, wie ich in der Abschlussklasse einer Hauptschule bestanden hätte.

Wie wird Mathematik unterrichtet?

Die Unterrichtsform wird sicherlich vom Lehrertyp bestimmt, aber nicht nur. Hier seien verschiedene Formen des Mathematikunterrichts vorgestellt.

    - Frontalunterricht
    - Klassenzentrierter Unterricht, d. h. Stofferarbeitung durch alle Schüler gemeinsam, mit zurückhaltender Steuerung durch den Lehrer
    - Gruppenunterricht.

Der Frontalunterricht ist die klassische Unterrichtsform. Er wurde seit den fünfziger Jahren zunehmend kritisiert, da erfolgreich nur bei einem Teil der Schüler. Didaktiker empfahlen die beiden anderen Unterrichtsformen und hatten große Erwartungen an deren Erfolg.

Die Praxis des Unterrichts änderte sich hierdurch zumeist wenig. Es ist zu einfach, dies ausschließlich fehlender Aufgeschlossenheit "gestandener" Lehrer anzulasten.

Statt grundsätzliche Vor- und Nachteile der verschiedenen Unterrichtsformen aufzulisten - dazu gibt es zahllose didaktische Veröffentlichungen - , sei hier von konkreten Erfahrungen berichtet.

Um 1980 besuchte ein Lehrer aus der DDR meinen Mathematikunterricht. Er gehörte zu den wenigen, die damals legal ausreisen durften.

Das Thema war die Einführung in die Trigonometrie. Ich ging aus von Straßen und Bahnkörpern verschiedener Steigung. Die Steigung kann man auf zwei Weisen ausdrücken: Durch die Höhenzunahme pro Kilometer oder durch den Steigungswinkel.

In intensivem Klassengespräch wurde diskutiert, welche Ausdrucksweise anschaulicher sei. Erkannt wurde eine Unklarheit der ersten Darstellungsweise. Ist mit 1 km der Weg auf der Straße oder die horizontale Strecke gemeint, welche die Landkarte wiedergibt?

Nahe lag die Frage, wie man Angaben in der einen Form mit solchen in der anderen vergleichen könne. Damit waren, was erst am Schluss gesagt wurde, Tangens und Sinus gewonnen. Diese ließen sich nun durch Zeichnung an Beispielen ermitteln.

Das Thema füllte die ganze Unterrichtsstunde aus. Der Gast zeigte sich enttäuscht. Bei seinem Unterricht in der DDR habe die Vorstellung von Tangens und Sinus wenige Minuten gedauert, wonach man mit dem Taschenrechner sofort zu Anwendungen übergehen konnte!

Nicht nur meine Art, das Thema zu behandeln, war ihm ganz fremd. Er erkannte auch nicht mein Ziel: Die Schüler sollten selbst die Begriffe erarbeiten, wobei deren Name sekundär ist. Sie erhielten damit ein Verständnis für den historischen Weg zur Gewinnung der trigonometrischen Funktionen aus der Praxis.

War dies nun eine selbständige Erarbeitung durch die Schüler? Nur mit Einschränkung. Es darf nicht das Einmischen des Lehrers verschwiegen werden, denn er weiß, "wohin es gehen soll".

Ein Vorgehen wie das hier beschriebene erfordert mehr Zeit als i. a. zur Verfügung steht. Schon deshalb ist es nur selten möglich. Es gilt den Gewinn für die Schüler an Erkenntnis mit der erzielten Fertigkeit im Umgang mit dem Gewonnenen abzuwägen.

Viele Themen sind für diese Unterrichtsform nicht geeignet, etwa die Einführung der Infinitesimalmathematik. Sie erfordert dennoch viel Zeit. Ein Didaktiker hat einmal gesagt: "Wenn ein Lehrer diese behandelt und die Schüler schon nach einer Stunde meinen, sie hätten sie verstanden, so hat der Lehrer etwas falsch gemacht. Denn dann hat er offenbar das Umwälzende des Neuen überhaupt nicht vermitteln können. In der Geschichte der Mathematik dauerte es ja lange, bis man den Gedanken infinitesimalen Vorgehens allgemein verstand und anwenden konnte. Es dauerte noch länger, bis man dem neuen Vorgehen eine Form gab, die den logischen Anforderungen der Mathematik voll gerecht wurde."

Mein Unterricht war i. a. eine Mischform aus frontalem und klassenzentriertem Unterricht. Was im Vordergrund stand, war vom Thema abhängig, aber auch immer das Resultat eigener Reflexion auf Grund der zunehmenden Erfahrung.

Gern hätte ich meinen Unterricht immer mehr am Didaktiker Martin Wagenschein orientiert, der stets äußerste Zurückhaltung des Lehrers anstrebte. Er beschrieb einmal, dass seine Klasse so erarbeitete, dass es unendlich viele Primzahlen gibt. Aber man brauchte zwei Wochen dazu. Wann hat man bei einem Thema so viel Zeit?

    
behr-a-r@mail.dk