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  Reinhart Behr:   Leben mit Mathematik - Ohne Inhalt -

 Inhalt  Vorwort  I: Rolle der Mathematik  II: Studienjahre  III: Referendariat  IV: Lehrberuf  V: Mathematik im Ruhestand

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Ib) Erste Begegnung mit der Mathematik

Ich war wohl zehn Jahre alt, als ich meinen Onkel Hans bewunderte. Er hatte nur eine einklassige Dorfschule besucht, dort aber gelernt, Quadratwurzeln schriftlich auf viele Stellen nach dem Komma zu berechnen. Noch größer war mein Respekt vor Leuten, welche sogar Kubikwurzeln berechnen konnten.

Meine unendlich geduldige Urgroßmutter, bei meinem Onkel lebend und 96 Jahre alt, hatte in einem mecklenburgischen Dorf um 1850 nur geringste Schulkenntnisse erworben. In mir erwachte nun der künftige Lehrer. Ich hatte den Ehrgeiz, meiner Urgroßmutter den Begriff der Quadratwurzel beizubringen. Mein Jubel war groß, als sie selbst herausfand: Die Qudratwurzel aus 81 ist neun!

Mein Onkel wollte dem entgegensteuern, dass ich mit meinen mathematischen "Weisheiten" eine gewisse Altklugheit entwickelte. Er stellte mir die Aufgabe: Zehn Maurer bauen ein Haus in dreißig Tagen. Wie lange brauchen zwanzig Maurer? Stolz sagte ich: Wegen der doppelten Zahl von Maurern die halbe Zeit, also fünfzehn Tage! Darauf mein Onkel: In welcher Zeit bauen dann 600 Maurer das Haus? Wegen der nun sechzigfachen Zahl von Maurern kam ich auf einen halben Tag, sah aber selbst das Unsinnnige der Antwort. Das brachte mich mit meiner "Weisheit" in arge Verlegenheit, zur Freude meines Onkels. Erst viel später erkannte ich, dass ich hier zum erstenmal auf ein tiefes Problem gestoßen war, das mich bis heute beschäftigt: Welchen Bezug hat die Mathematik zur Realität?

Als Zwölfjähriger erfuhr ich mich als den meisten Mitschülern körperlich unterlegen. Typisch für das Alter wurde ich bald Zielscheibe für ihren Spott. Der Turnlehrer, fern jeder pädagogischen Einsicht, verhinderte dies nicht, sondern nahm mir sogar den letzten Mut. Es brachte ihn zur Raserei, wenn ich, grinsende Blicke auf mich gerichtet, mich nicht traute, auch nur über den niedrigsten Bock zu springen. Angesichts solcher Erfahrung wurde mir die so geliebte Mathematik ein starker Trost. Sie bot mir eine Chance, mich auf andere Weise zu behaupten, nämlich durch begründete Argumente. Hieran fehlte es gerade den boshaftesten Spöttern.

Nie vergessen werde ich meine Erleichterung an einem Tag, als wir erfuhren, der Turnlehrer sei krank. Statt Turnen hätten wir nun Mathematik. Mit dieser Freude auf eine zusätzliche Mathematikstunde stand ich fast allein. Zu ihr trug sicher bei, dass der Mathematiklehrer mit Engagement die für ihn natürlich trivialen mathematischen Schritte auf dieser Stufe vermittelte und durchdachte Beiträge von Schülern ermutigte. Bald bemerkte ich, dass ich mathematische Zusammenhänge nicht nur rasch begriff, sondern auch Mitschülern offenbar gut vermitteln konnte. Hierzu immer gern bereit, wurde ich allmählich von den Mitschülern mehr geschätzt.

Ein Erlebnis ist mir in Erinnerung. Ich saß als Vierzehnjähriger in einer Lateinstunde. Ein Freund aus der Nachbarklasse trat ein, um Entschuldigung bittend. Er fragte den Lehrer, ob ich für ein paar Minuten herauskommen dürfe. Der Rektor habe darum gebeten.
   Geflissentlich stimmte der Lehrer zu. Draußen eröffnete mir der Freund, dass er die Geschichte erfunden habe. Er brauche dringend meine Hilfe zur Lösung einer Mathematikaufgabe, vor der er in seiner Klassenarbeit säße. Ich konnte ihm helfen. Nie erfuhr mein Lateinlehrer von dieser dreisten Lüge. Der Schüler hatte richtig kalkuliert, dass der Lateinlehrer kaum den Rektor nach dem Grund für seine Bitte fragen würde.

Nun setzte ein sich selbst verstärkender Prozeß ein. Ich erkannte, dass die Beschäftigung mit Mathematik mehr Selbstsicherheit ebenso wie mehr Akzeptanz durch meine Kameraden bewirkte. Grund genug, sich mehr in sie zu vertiefen, was die Erfahrung bekräftigte, und so fort.

Ist dies eine typische Sekundärmotivation, so war das Hauptmotiv jedoch der wachsende Einblick in eine Welt, die mich immer neugieriger machte. Diese Neugier erlahmte bis heute nicht.

Nahe läge die Vermutung, dass sich hier eine Art Wunderknabe entwickelte, ein Sonderling, der bei seinen geistigen Entdeckungsreisen seine natürliche Umgebung immer mehr ignorierte.

Nun, das letztere war tatsächlich der Fall. Auffällige mathematische Frühbegabung lag jedoch - etwa im Gegensatz zu Gauß - keineswegs vor.

Der zehnjährige Gauß besuchte als Sohn eines Landarbeiters eine Dorfschule nahe Helmstedt. Der Lehrer stellte den Schülern die Aufgabe, alle Zahlen von 1 bis 100 zu addieren. Er hoffte offenbar, sich hiernach mit anderem beschäftigen zu können.

Nach wenigen Minuten legte der kleine Gauß ihm das Resultat vor: 5050. Er hatte die erste zur letzten Zahl addiert, die zweite zur vorletzten, usw. Hierbei ergab sich jedesmal 101, und zwar 50mal.

Der Lehrer erkannte sofort die ungewöhnliche Begabung des Jungen. Nach mehreren solchen Erfahrungen empfahl er dem Herzog von Braunschweig, ihm den Gymnasialbesuch und eine akademische Ausbildung zu ermöglichen. Mit Erfolg, wie wir wissen. Der Zehn-DM-Schein zeigte ein Porträt von Gauß, die berühmte Gaußkurve, einen Sextanten und ein Triangulationsnetz. So wurde an einige der bekannteren Verdienste des vielleicht fruchtbarsten deutschen Mathematikers erinnert.

    
behr-a-r@mail.dk