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  Reinhart Behr:   Leben mit Mathematik - Rolle der Mathematik -

 Inhalt  Vorwort  I: Rolle der Mathematik  II: Studienjahre  III: Referendariat  IV: Lehrberuf  V: Mathematik im Ruhestand

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Ic) Mathematische Neugier wird geweckt

Im November 1943 - ich war inzwischen fünfzehn Jahre alt - nahmen die Luftangriffe auf Berlin immer mehr zu. Viele Stunden verbrachte man mit den Nachbarn im Luftschutzkeller. Die gellenden Laute detonierender Fliegerabwehr-Granaten bemerkte ich kaum, gänzlich in ein Heftchen mit mathematischen Notizen vertieft. Dies erregte Respekt ob meiner Kaltblütigkeit, ja meines Mutes. Wie falsch war dieses Urteil! Ich war einfach so vertieft, dass ich um mich herum fast nichts wahrnahm.

Am 22. November spät abends traf eine Bombe unser Haus. Mit Mühe gelang es uns, über die halb verschüttete Kellertreppe ins Freie zu gelangen. Das meiste Hab und Gut war verloren, wie sich am nächsten Tag zeigte. Mein Gedanke galt - nicht ausschließlich, man soll nicht übertreiben - dem Mathematik-Heftchen. Tatsächlich gelang es mir, in den Keller zu kriechen und dieses herauszuholen.

Womit ich dieses Heft gefüllt hatte, ist mir in deutlicher Erinnerung. Durch die Schule war ich gerade mit gemischt quadratischen Gleichungen vertraut, etwa in der Form

ax² + bx + c = 0.
In jener Nacht hatte ich versucht, die Gleichung zu lösen, wenn x² durch √x ersetzt wird. Eine Quadrierung der ganzen Gleichung ließ die Wurzel nicht verschwinden. Ich erdachte raffinierte quadratische Ergänzungen, ohne Resultat. Das Beispiel zeigt, dass meine Befähigung doch recht begrenzt war. Auf den Gedanken, den Wurzelausdruck vor der Quadrierung zunächst zu isolieren, kam ich nicht.

Ein anderes, von mir selbst aufgeworfenes Problem ließ mich ebenfalls nicht los. Das Produkt a×n ist ja nur die Abkürzung für den n-gliedrigen Ausdruck a + a + ... a, entsprechend an für a×a×a....a. Mir schien es lohnend, dies weiterzuführen und entsprechend den aus n Zahlen a bestehenden Ausdruck (((aa)a)...)a, als "Potenz zweiter Stufe" zu bezeichnen und ebenso eine dritte und immer höhere Stufen zu bilden. So könne man vielleicht Verallgemeinerungen der Gesetze finden, die bei Verknüpfung von Addition, Multiplikation und Potenzbildung bestehen. Solche Gesetze gelang es mir nicht zu finden, was mich aber bei meinen "Forschungen" nicht entmutigte.

Von den Potenzen kannte ich damals nur solche mit natürlichen Exponenten. Da stieß ich bei dem schon erwachsenen Bruder eines Freundes auf ein Buch mit der merkwürdigen Aussage e2πi = 1. Sie zog mich magisch an. Ich erfuhr, dass e etwa 2,71 betrage. Die Zahl i war mir gerade bei der Lösung quadratischer Gleichungen begegnet. Wie sollte eine so merkwürdige Potenz, in der obendrein noch die beim Kreis so wichtige Zahl π auftrat, den Wert 1 haben?

Später, im Mathematik-Studium, erfuhr ich, dass die Beziehung nur der Spezialfall einer allgemeineren war, der Moivreschen Formel
e2πi = cos(nα) + isin(nα) mit n = 2 und α = π.
Der Zauber war nun dahin. Eigentlich hätte die Moivresche Formel noch mehr Grund zum Staunen geben müssen. Aber inzwischen war ich an ständig neues Verblüffendes in der Mathematik gewöhnt. Hierdurch hatte ich Blasiertheit entwickelt und die Unbefangenheit verloren, die zum Staunen fähig macht.

Π, dieser griechische Buchstabe, hatte mich schon früh neugierig gemacht. Erst nach Jahrzehnten erfuhr ich eher beiläufig, dass dieser Buchstabe abkürzend für Peripherie stand. Warum hatte man eigentlich nicht für das Verhältnis von Kreisumfang und -durchmesser den lateinischen Buchstaben p eingeführt? Das Entsprechende machte man doch mit der Eulerschen Zahl und nannte sie e.

Vielen Menschen war damals die Bedeutung von π keineswegs vertraut. Konnte man mit diesem merkwürdigen π umgehen, fühlte man sich ein wenig als Mitglied einer geheimen Bruderschaft. Ähnliches spielt wohl auch eine Rolle, wenn in den USA Studenten sich als der Gruppierung ελν zugehörig bezeichnen und dies sogar auf ihren Jacken demonstrieren.

Besonderes, ja Elitäres will wohl auch das griechische Φ zum Ausdruck bringen, unter dem man für "Senioren-Residenzen" mit dem Namen Kollegium Augustinum wirbt.

Die ersten griechischen Buchstaben lernen Schüler als Winkelbezeichnungen kennen. Diese Bezeichnungen sind international, auch wo andere Schriften üblich sind. Es gibt jedoch Ausnahmen. In dänischen Schulbüchern z. B. werden Winkel mit lateinischen Buchstaben bezeichnet. In der Entwicklung der Mathematik begnügte man sich schließlich nicht mit lateinischen und griechischen Buchstaben. Georg Cantor, der Begründer der transfiniten Mengenlehre, führte vor etwa 120 Jahren für die Mächtigkeit des Kontinuums den Anfangsbuchstaben des hebräischen Alfabets, ℵ, ein. Hiermit wollte er wohl zum Ausdruck bringen, dass er eine völlig neue Kategorie in die Mathematik eingeführt hatte. Bei dem erwähnten Bruder des Freundes lag auch ein merkwürdiges Gerät, das er Rechenstab oder Rechenschieber nannte. Es war ein mit Zahlen beschriebenes Lineal mit einer Nut, in der ein zweites, ebensolches Lineal verschiebbar war. Die Zahlen hatten nach rechts hin immer engere Abstände. Ich erfuhr, dass man mit diesem Gerät multiplizieren kann. Dies geschah genau so, wie man mit aneinander gelegten gewöhnlichen Linealen Zahlen addieren konnte.

Abb. 1
Wie war das möglich? Offenbar waren die enger werdenden Abstände der Zahlen wichtig. Aber wie mußten diese zusammenrücken, und warum gelangte man so zum Produkt der Zahlen? Das blieb für mich lange rätselhaft. Auch hier war der Zauber der Faszination fort, als ich später erfuhr: Hier geschah nichts anderes als die Addition der Logarithmen der Zahlen und damit die Multiplikation der Zahlen selbst. Nur waren diese Logarithmen selbst gar nicht angegeben, sondern nur die Zahlen, auf welche sie sich bezogen.

Den meisten Jüngeren ist heute dieses Gerät nicht mehr bekannt. Vor Entwicklung der Taschenrechner gehörte es zur unentbehrlichen Ausrüstung jedes Mathematikers, Technikers und Ingenieurs.

    
behr-a-r@mail.dk