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  Reinhart Behr:   Leben mit Mathematik - Rolle der Mathematik -

 Inhalt  Vorwort  I: Rolle der Mathematik  II: Studienjahre  III: Referendariat  IV: Lehrberuf  V: Mathematik im Ruhestand

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Id) Der Wert rationalen Denkens wird erkannt

Mehr und mehr beeinflusste nun - in den späten dreißiger Jahren des vorigen Jahrhunderts! - eine Ideologie das Leben immer mehr, die des Nationalsozialismus. Hierdurch wurde meine Neigung zur Mathematik verstärkt. Dies muss näher begründet werden.

In der Schule erlebte ich den Nationalsozialismus zunächst durch seine äußeren Formen, etwa bei einem der nationalen Feiertage. Die Schüler waren auf dem Hofe im Karrée aufgestellt, das Lehrerkollegium in einer Ecke. Nach lastenden Minuten des Schweigens wurde die große Flügeltür der Schule aufgerissen, anstolziert kam der Rektor. Der Turnlehrer "meldete" ihm so und so viele Lehrer und Schüler "zum Befehlsempfang" angetreten. Das geschah mit brüllender Stimme, als wenn der Schulleiter schwerhörig sei. So wurde der Auftritt des Führers selbst im Kleinen imitiert.

Der Nationalsozialismus verlangte blinden Gehorsam statt einer Auseinandersetzung mit seinen Vorstellungen, ja mehr noch. Eine Auseinandersetzung, ein Werten des Für und Wider, war geradezu als "jüdischer Intellektualismus" verpönt. Es wurde betont, dass auch die Entscheidungen des Führers selbst nicht das Resultat rationalen Abwägens seien, sondern das Ergebnis seiner Fähigkeit, zu "erahnen", wofür ihn die "Vorsehung" bestimmt habe. Dies, so wurde nach und nach klar, war der Kern der nationalsozialistischen Weltanschauung. Das Aufmarschieren der braunen Kolonnen der SA, Marschmusik, Fahnenmeere, Fackelzüge und "flammende" Reden waren ihre Ausdrucksmittel. Man wollte auschließlich Gefühle ansprechen, vornehmlich nationalen Größenwahn, irrationale Ängste und Vorurteile.

Wie weit dies in den Unterrichtsalltag der Schulen drang, war sehr verschieden. An meiner Schule, ab 1939 der Schadow-Schule im Berliner Stadtteil Zehlendorf, verschonten die meisten Lehrer uns weitgehend mit Form und Inhalt der nationalsozialistsischen Ideologie. Sie bemühten sich stattdessen, eine Atmosphäre der Rationalität aufrechtzuerhalten. Erst später wurde mir dies im Ganzen klar, auch, welcher Mut dazu gehörte. Eine Ausnahme bildeten nur zwei jüngere Lehrer. Sie waren begeisterte Nationalsozialisten, bald wurden sie zum Militär einberufen.

Kein Unterrichtsfach stellte in meiner Vorstellung einen größeren Kontrast zu den nationalsozialistischen Idealen dar als Mathematik. Immer deutlicher wurde mir: Hier galt nur, was begründet werden konnte. Dafür gab es feste Maßstäbe. Beging einer einen Fehler, und sei es der Lehrer selbst, so hatte auch der schwächste Schüler das Recht, auf diesen Fehler hinzuweisen. Ja, sein Beitrag wurde sogar als nützlich angesehen. Ähnliches, wenn auch nicht mit so festen Maßstäben, galt in den Naturwissenschaften. Gegenüber den anderen Fächern bildete sich bei mir allmählich eine Distanz, ja auch pubertäre Arroganz. Konnten sie doch offenbar nicht solchen strengen Kriterien wie die Mathematik genügen.

Im Geschichtsunterricht etwa erfuhr man, dass Behauptungen gewisser Autoren über historische Vorgänge von anderen bezweifelt wurden. Welcher Autor recht hatte, ließ sich aber dort nicht eindeutig entscheiden. Man mußte sich demjenigen Autor anschließen, der, vielleicht durch die Gründlichkeit seiner Quellenforschungen, die größere Autorität auf seinem Gebiet war. Dass Geschichtsforschung gar nicht anders vorgehen kann, dass sie aber dennoch ihre Berechtigung hat, nicht nur um "aus der Geschichte zu lernen", wollte ich nicht wahrhaben.

Damit zeigte sich bei mir ein Zug, der sich nicht selten bei Mathematkern oder mathematisch orientierten Naturwissenschaftlern findet. Sie befassen sich lieber überhaupt nicht mit all den Bereichen, die einer strengen Entscheidbarkeit unzugänglich sind. Sie sind damit, manchmal mit Stolz, auch "unpolitisch". Erst viel später erkannte ich die Verantwortungslosigkeit einer solchen Position.

Wer die Zeit der nationalsozialistischen Herrschaft nicht selbst erlebt hat, fragt, ob deren Ideologie auf mich überhaupt keine Anziehungskraft ausgeübt habe. Tatsächlich hat sie mich in allen ihren Erscheinungsformen nur abgestoßen.

Dies lag sicher mit daran, dass meine Eltern diese Ideologie entschieden ablehnten. Aber auch bei Mitschülern mit einer nicht so entschiedenen Haltung der Eltern war die Wirkung der Propaganda erstaunlich gering. Eine gewisse Faszination übten bei vielen zwar Militär und die Betonung von Deutschlands "nationaler Wiedergeburt" aus. Ähnlich war es mit den sportlichen Möglichkeiten, welche die Hitler-Jugend bot, wie Motorradfahren, Segeln und Segelflug. Jedoch wurde über das bombastische Gehabe nationalsozialistischer Uniformträger , der sog. "Goldfasanen", nur gelacht.

Auch war uns Rassenwahn völlig fremd. Halbjüdische Mitschüler - solche gab es bis etwa 1943 noch - erfuhren weder von den Mitschülern noch den Lehrern auch nur die geringste Ablehnung. Dies mag überraschen. Es ist vielleicht durch die stark konservative Prägung des Stadtteils der Schule erklärlich. Die Eltern vieler Mitschüler waren schon seit der Weimarer Zeit hohe Beamte, Richter oder Mitglieder des Generalstabes, mehrere adelig. Mein Vater bildete als einfacher Versicherungsangestellter eher eine Ausnahme.

Daher lud meine Schule selbst im Sommer 1939, wenige Monate vor Ausbruch des zweiten Weltkrieges, noch eine Schulklasse aus Liverpool im Rahmen eines Austauschs ein.

Manche Mitschüler waren für die Naturwissenschaften begeistert. Zu ihnen bildeten sich bei mir trotz Gemeinsamkeiten allmählich feine Unterschiede heraus. Für sie zählte nur, was mit den Sinnen erfassbar ist, für mich nur, was sich - wie ich es damals schlicht ausdrückte - beweisen ließ. Die Begrenztheit solcher Positionen zu erkennen waren wir viel zu jung.

Ich hatte das Glück, schon als Jugendlicher mit meinen Eltern lange Gespräche über Religion, insbesondere die christliche, führen zu können. Meine Eltern waren gläubige Christen, aber in Distanz zu den Ritualen der Kirche. Sie versuchten mich zu überzeugen, dass nicht alles erklärbar und beweisbar sei. Ich könne mich doch z. B. nicht der Welt des Schönen und Guten verschließen.

Hier blockierte ich völlig, war aber erst nach einigen Jahren so gewitzt zu erklären: Was schön ist und was gut, kann man nur erfühlen. Es gehört damit überhaupt nicht zu dem Bereich, der auf Richtigkeit zu überprüfen ist. Es steht damit zum - wie ich es nannte - rationalen Denken gar nicht im Widerspruch.

Meine Blockade bedeutete sicherlich, dass ich ästhetische Gefühle wenig entwickelte. Leuchtend roter Himmel bei einem Sonnenuntergang am Meer oder ein Regenbogen bewegten mich nicht. Das wurde erst anders, als ich sie physikalisch erklären konnte. Viele fürchten, gerade eine Erklärung aus den - doch so banalen - Gesetzen der Naturwissenschaft würde solchen Zauber zerstören. Mir ging es aber genau umgekehrt. Gerade dass die Natur, "banalen" Gesetzen folgend, solche Phänomene hervorrief, ließ mich staunen. Hierin habe ich mich nicht geändert.

In den letzten Jahren fand ein Teilgebiet der Biologie, die Musterbildung bei vielen Pflanzen, das Interesse von Mathematikern. Warum bilden etwa Tannenzapfen, Früchte wie die Ananas oder Sonnenblumen spiralige Muster? Es gelang ihnen, in dieser Musterbildung ein einfaches Bauprinzip zu erkennen, bei dem die Fibonacci-Zahlen eine Rolle spielen. Diese Erkenntnis nimmt dem Beobachteten nichts von seinem ästhetischen Reiz, im Gegenteil. (Näheres später.)

In der Oberstufe des Gymnasiums wurde mir die Begegnung mit Leibniz wichtig. Der Mathematik-Lehrer erwähnte ihn als einen der Schöpfer der Infinitesimal-Mathematik. Ein vorlauter Schüler rief in den Raum: "Ha ha, Leibnizkeks!" Reaktion des Lehrers: "Ja, Du hast recht. Dieser Keks wird von der Bahlsen-Fabrik in Hannover hergestellt. Sie wollte mit der Namensgebung den Mathematiker und Philosophen Leibniz als einen großen Sohn der Stadt ehren, denn dieser war auch als Feinschmecker bekannt." Die souveräne Art des Lehrers, auf eine offensichtliche Provokation zu reagieren, imponierte mir, er wurde mir Vorbild im späteren Lehrerdasein.

Im Geschichtsunterricht spitzte ich dann die Ohren, als unser Lehrer berichtete, dass Leibniz angesichts der tiefen religiösen Spaltung Deutschlands einen interessanten Plan hatte. Er schlug vor, ein geachteter protestantischer Theologe und ein ebensolcher katholischer sollten ihre Positionen so präzise formulieren, dass man wie bei einer mathematischen Behauptung erkennen könne, wer recht habe. So fern mir auch die Religion selbst war, so sehr faszinierte mich doch die Idee.

Ich meinte, ein ähnlicher Gedanke müßte doch auch im Rechtswesen nützlich sein. Bei einer Straftat müßte man herausfinden, welche Faktoren in welchem Maße die Handlung des Täters bestimmt hatten. Solche Faktoren seien die prägenden Einflüsse von Umwelt und Elternhaus in der Kindheit, mögliche Erbfaktoren und die soziale Situation bei der Tat. Man könne dann mit mathematikgleicher Präzision eine Bilanz aus diesen Faktoren ziehen und dadurch ein gerechtes Urteil fällen. Vorübergehend träumte ich davon, Jurist zu werden und auf diesem Wege zu arbeiten.

    
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