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  Reinhart Behr:   Leben mit Mathematik - Studienjahre -

 Inhalt  Vorwort  I: Rolle der Mathematik  II: Studienjahre  III: Referendariat  IV: Lehrberuf  V: Mathematik im Ruhestand

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IId) Erfahrung: Rassenwahn hatte es selbst bei Mathematikern gegeben

Das hatte einen tieferen Grund. 1933 hatte Bieberbach ein Buch über anschauliche, wie er es damals nannte, "sinnenhafte" vs. abstrakte Mathematik geschrieben. Es enthielt die abenteuerliche Behauptung, "arischer" Geist sei sinnenhaft, "jüdischer" abstrakt, blutleer, "zersetzend". Dieses Buch war eine willkommene Waffe der Nationalsozialisten zur Hetze gegen jüdische Mathematiker an den deutschen Universitäten und beschleunigte ihre Entlassung nach der Machtergreifung Hitlers. Kein Wunder daher, dass Bieberbach nicht in den Lehrkörper der FU aufgenommen worden war.

Bewegend ist es hierzu, Näheres über die Persönlichkeit der jüdischen Mathematikerin Emmy Noether in Göttingen zu lesen. Frau Noether wurde von den Studenten als Algebraikerin geschätzt und als Mensch geliebt. Eine Professur wurde ihr, da eine Frau, schon in der Weimarer Zeit zunächst verweigert. Erzürnt hierüber rief der angesehene Professor Hilbert aus: "Eine Universität ist doch keine Badeanstalt!" Diese, aus den Militärbadeanstalten hervorgegangen, waren damals lange noch für Frauen gesperrt. 1933 wurde Frau Noether mit allen anderen jüdischen Dozenten entlassen, emigrierte in die USA und starb dort 1935.

1934 fragte der neue Erziehungsminister Rust Hilbert, wie die Göttinger Mathematik gedeihe. Hilberts Antwort: "Herr Minister, diese gibt es nicht mehr!"

Hilbert hat als erster eine Forderung aufgestellt, die heute als selbstverständlich erscheint: Bei geometrischen Begriffsbildungen, Axiomen und Herleitungen dürfen keinerlei anschauliche Vorstellungen benutzt werden. Die vollständige Abstraktion hiervon mag unsere Sinne unbefriedigt lassen. Nur sie ermöglicht jedoch zwingende Schlüsse.

Das erwähnte Buch Bieberbachs war mir bereits während meines Studiums an der HU in die Hände gefallen, und zwar in der ehrwürdigen, nahe der Humboldt-Universität gelegenen Staatsbibliothek. Damals konnte man nicht einfach an die Bücherregale herantreten und Geeignetes heraussuchen. Fand man in der Kartei ein möglicherweise wichtiges Buch, so füllte man einen Vordruck mit Name, Adresse, Buchtitel und -verfasser sowie der Buchnummer aus und übergab diesen an einer hohen Schranke einem der Bibliotheksbeamten. Dieser, in schwarzer Uniform mit goldenen Knöpfen, kam nach gebührlicher Zeit mit dem gewünschten Buch.

Zu meiner Verblüffung stieß ich auf das fatale Buch Bieberbachs dort, im sowjetischen Sektor Berlins! Man hatte bei der Säuberung der Bibliothek von belastetem Material aus der Hitler-Zeit offenbar unter mathematischen Fachbüchern keine mit rassistischem Gedankengut vermutet.

Sieht man von Bieberbachs rassistischen Unterstellungen ab, so bleibt doch die Kluft zwischen abstrakter und anschaulicher Geometrie ein tiefes Problem.

    
behr-a-r@mail.dk