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  Reinhart Behr:   Leben mit Mathematik - Studienjahre -

 Inhalt  Vorwort  I: Rolle der Mathematik  II: Studienjahre  III: Referendariat  IV: Lehrberuf  V: Mathematik im Ruhestand

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IIf) Ursachen der Neigung zur Theorie

In Physik hatte ich für die Prüfung die Wahl zwischen experimenteller und theoretischer Physik. Ich wählte letztere. Warum? Zur Erklärung hole ich ein wenig aus.

Als Junge liebte ich die Technik, basteltete gern, zerlegte alte Wecker, wobei mir dann manchmal trotz viel Geduld nicht mehr der Zusammenbau gelang. Dann sagt man gerne, das Ganze sei eben mehr als die Summe seiner Teile. Diese Aussage gefällt mir nicht, weil sie gern von "Holistikern" zu pseudowissenschaftlichen Ausführungen missbraucht wird. Eine Uhr ist eben nicht nur die Menge ihrer mechanischen Teile, sondern das, was durch eine bestimmte Zusammenfügung entsteht. Daran ist nichts Geheimnisvolles.

An den beliebten kleinen chinesischen Holzkörpern, leicht zu zerlegen, aber oft sehr schwer wieder zusammenzufügen, kann man Derartiges studieren. Ich habe den Eindruck, dass immer weniger Menschen die Geduld hierzu aufbringen. Über "Ganzheit" zu schwafeln ist eben leichter.

Diese chinesischen Körper sind ein Nebenprodukt chinesischer Handwerker. Sie beherrschten schon vor vielen Jahrhunderten die Kunst, Dächer aus geschickt zugeschnittenen Holzteilen ohne Nägel und Schnüre haltbar zusammenzufügen.

Ich besaß eine Modelleisenbahn. Diese liebte ich so, daß meine Mutter mich eines Abends - von einer Reise zurück - im Nachtzeug mit ihr beschäftigt vorfand. Ich war am Morgen aufgestanden und zu der Eisenbahn gestürzt, völlig vergessend mich anzuziehen, ja überhaupt etwas zu essen.

Die Lokomotiven meiner Bahn wurden von einem Uhrwerk angetrieben, das man aufziehen mußte. Ein Freund, Sohn begüterter Eltern, besaß bereits eine elektrische Eisenbahn. Mehr beeindruckte mich aber die Bahn eines anderen Jungen. Sie wurde von einer echten Dampf-Lokomotive angetrieben. An ihr lernte man die Mechanik einer Dampfmaschine kennen.

Ich bedauere die heutige Jugend, welche nicht mehr im buchstäblichen Sinne begreifbare Technik kennen lernt. Sie lässt sich stattdessen von Computern fesseln, deren Inneres - Verzeihung, es heißt ja deren hard ware - selbst Elektronik-Fachleuten meist kaum mehr durchschaubar ist.

Mit der zunehmenden Neigung zum abstrakten Denken ging mein Interesse an der Technik allmählich verloren. Daher übte die experimentelle Naturwissenschaft eine geringe Anziehung aus. Zur theoretischen Physik neigte ich auch deshalb mehr, weil es in ihr eine geringe Zahl von überprüfbaren Gesetzen möglich macht, eine riesige Zahl von Naturzusammenhängen auf rein deduktivem Wege zu gewinnen.

Die Experimentalphysik bestand in meinen Augen aus zahllosen Einzelfakten. Man lief daher Gefahr, im Examen über etwas befragt zu werden, womit man nicht vertraut war. Mir ging völlig eine gewisse Gelassenheit ab, ein Vertrauen, mit Unerwartetem umgehen zu können.

Erwähnt wurde bereits, dass mir ganz entsprechend schon sehr früh auch das Vertrauen zu den Fähigkeiten des eigenen Körpers abging. Das blieb so, wie hier näher - die Abschweifung sei erlaubt - beschrieben sei.

Es vergingen z. B. viele Jahrzehnte, bis ich das Radfahren erlernte. Bestieg ich ein Rad, so sah ich das Problem: Bevor eine Kurve käme, müsse man doch berücksichtigen, wie stark ihre Krümmung sei und wie schnell man gerade fahre. Hieraus gelte es auf die erforderliche Radneigung zu schließen. Es half mir wenig, wenn mir Freunde versicherten, der Körper würde selbst die nötige Neigung finden, wenn man sich ihm nur ruhig überlasse.

Aus meiner Zeit als Lehrer entsinne ich eine Physikstunde. Wir hatten den Kreisel besprochen und waren natürlich auf die Physik des Fahrrads zu sprechen gekommen. In der anschließenden Pause führten die Schüler mich zu einem Rad und forderten mich zum Fahren auf. Ich bestieg das Rad und fuhr schweißgebadet geradeaus auf eine Mülltonne zu und stützte mich auf diese, um absteigen zu können. Das Gejohle der Schüler kann man sich denken.

Ähnliche Probleme hatte ich bei allem, was Bewegungskoordination erforderte, etwa beim Tanzen, aber vor allem beim Schwimmen. Als Zehnjähriger verlor ich in einem Berliner Gewässer nahe dem Ufer überraschend den Boden unter den Füßen. Nach viel Wasserschlucken und panischer Angst wurde ich halb bewußtlos von einem Schwimmer an Land gezogen. Erst mit vierzig Jahren wagte ich mich, meinem Körper vertrauend, in tiefes Wasser. Zwar wurde ich dann ein begeisterter Schwimmer, aber Unerwartetes im Wasser bringt mich noch heute leicht in Panik. Kurz, ich war das, was in der nationalsozialistischen Ideologie ein "Instinktkrüppel" hieß.

Zurück zu meinem Verhältnis zur Experimentalphysik. Erst als Lehrer wandte ich mich ihr stärker zu. Ich bemerkte nämlich, dass diese die meisten Schüler stark ansprach. Ich begann - wie in der Mathematik - einzusehen, dass es für die Heranwachsenden ein Gewinn ist, die Entstehung der Wissenschaft aus der Praxis im eigenen Erleben nachvollziehen zu können.

    
behr-a-r@mail.dk