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  Reinhart Behr:   Leben mit Mathematik - Studienjahre -

 Inhalt  Vorwort  I: Rolle der Mathematik  II: Studienjahre  III: Referendariat  IV: Lehrberuf  V: Mathematik im Ruhestand

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IIg) Erster Einblick in die gesellschaftlichen Ursachen der Naturwissenschaften

In meiner Studienzeit hatte ich nichts über die Ursprünge der Naturwissenschaft gehört, mit einer Ausnahme. Ich hörte an der FU einen Vortrag des US-Hochkommissars J. B. Conant, von Beruf Chemiker.

Dieser führte aus, dass die reichen Städte Italiens am Ende des Mittelalters die Wiege der Naturwissenschaft waren. Logisch geschulte Gelehrte begannen - etwas völlig Neues - mit hochqualifizierten Handwerkern zusammenzuarbeiten. Sie entwickelten so mit deren Hilfe Geräte, die einerseits praktischen Zwecken dienten, andererseits aber die Auffindung der ersten Gesetze der Naturwissenschaft ermöglichten.

Ein Beispiel ist Galilei. In Florenz kann man in dem wenig beachteten Museum für die Geschichte der Naturwissenschaft Nachbauten von Galileis Geräten bewundern, die hierzu dienten.

Erst viel später ging mir auf, dass Conants Ausführungen der Vorstellung von Marx entsprachen: Die menschliche Erkenntnis entwickelt sich an gesellschaftlichen Bedürfnissen. Conant vermied einen Hinweis darauf, vielleicht um nicht in den Verdacht des damals mächtigen "Ausschusses zur Untersuchung unamerikanischer Umtriebe" des US-Senators Mc Carthy zu geraten.

Dieser beobachtete mit Misstrauen besonders solche Naturwissenschaftler, welche ihre gesellschaftliche Wirkung und Verantwortung reflektierten. Hierzu gehörten mehrere Forscher, die an der Entwicklung der Atombombe mitgewirkt hatten, darunter Conant selbst, aber auch die mehr bekannten J. R. Oppenheimer und Niels Bohr.

Conant stand in einer amerikanischen Tradition, die Europäern nicht immer bekannt ist. Sie wird deutlich an dem Pädagogen Fritz Karsen. Dieser flüchtete als Berliner Sozialdemokrat 1933 in die USA und kehrte 1945 als Erziehungsbeauftragter der US-Militärregierung nach Berlin zurück.

Zu dem sowjetischen Erziehungsbeauftragten bestanden tiefgreifende Differenzen. In einem Punkt jedoch waren sich beide bei der Arbeit in der Alliierten Kommandantur einig. Das deutsche Schulsystem mit seiner hierarchischen Struktur von Volks-, Mitel- und Oberschule spiegele die traditionelle deutsche Klassentrennung mit ihrer Geringschätzung praktischer Fähigkeiten. Die beiden setzten - freilich nur für einige Jahre - durch, dass in Berlin alle Schüler bis zum 9. Schuljahr eine gemeinsame Schule besuchten, wie es sowohl in den USA wie in der Sowjetunion üblich war. Nach Fritz Karsen heißt heute noch eine in seinem Geist geführte Gesamtschule in Berlin.

Vor- und Nachteile einer gemeinsamen Schule für alle beschäftigte mich später immer wieder während meiner Arbeit als Lehrer.

    
behr-a-r@mail.dk