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  Reinhart Behr:   Leben mit Mathematik - IV Erfahrungen ... -

 Inhalt  Vorwort  I: Rolle der Mathematik  II: Studienjahre  III: Referendariat  IV: Lehrberuf  V: Mathematik im Ruhestand

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noch IV c)-4- Mengenlehre

Vielleicht mehr Schaden als Nutzen entstand durch die Definition einer Funktion in der Mengen-Terminologie: Ist /R die Menge aller reellen Zahlen, /R´/R das kartesische Produkt, auch die Menge der geordneten Zahlenpaare genannt, so ist eine Funktion gegeben durch eine gewisse Untermenge hiervon, nämlich eine solche, bei der zwei Zahlenpaare identisch sind, wenn es ihre ersten Glieder sind. Hierdurch ist gesichert, dass die Funktion eindeutig ist.

Die Idee einer Funktion, nämlich einen Prozess zu beschreiben, wird so gänzlich verschüttet.

Von Nutzen erweist sich die Mengen-Terminologie bei der Illustrierung analoger Strukturen in verschiedenen Bereichen der Mathematik. Diese zu finden war - wie erwähnt - das Ziel des Bourbaki-Kreises. Ein Beispiel:

Sind A, B und C Mengen, so gilt:
A∩(B∪C) = (A∩B)∪(A∩C).

Diese Aussage hat dieselbe Struktur wie das distributive Gesetz für Zahlen:
a×(b+c) = a×b + a×c .

Ja mehr noch: Man findet dieselbe Struktur in der formalen Logik. Sind p, q und r Aussagen, so gilt:
p∧(q∨r) = (p∧q)∨(p∧r) .

Mit Recht spricht man daher bei der Beschreibung der Gesetze der formalen Logik von einer Algebra, der Booleschen.

Die formale Logik wiederum findet ihre Entsprechung im Aufbau elektrischer Schaltkreise, und diese Entsprechung bewährte sich zu ihrer Vereinfachung. Damit ist ein direkter Praxisbezug des sonst so abgehoben erscheinenden Gebietes gewonnen

Groß ist hier die Versuchung, ständig Analogien zu suchen, ja als gegeben anzusehen. Da zeigt es sich aber - für Schüler sicher überraschend - , dass diese Analogien ihre Grenzen haben.

Hier ein Beispiel. In der gerade vorgestellten Aussage der formalen Logik kann man die Verknüpfungssymbole vertauschen und erhält so eine ebenfalls richtige Aussage:
p∨(q∧r) = (p∨q)∧(p∨r) .

Dieselbe Vertauschung kann man bei der Aussage über Mengen vornehmen. Vertauscht man das Vereinigungs- mit dem Schnittsymbol, so erhält man die ebenfalls richtige Aussage
A∪(B∩C) = (A∪B)∩(A∪C) .

Vertauscht man jedoch in der analogen Aussage der Zahlenalgebra, dem distributiven Gesetz, die Verknüpfungssymbole + und . , so erhält man die offensichtlich falsche Aussage a+(b×c) = (a+b) × (a+c) .

Die strukturelle Gleichheit von Beziehungen auf verschiedenen Gebieten ermöglicht also zwar Arbeitsersparnis (wie bereits S. 21 erwähnt), weil Ergebnisse auf einem Gebiet sofort auf ein anderes übertragbar sind. Wie weit dies aber möglich ist, bedarf in jedem konkreten Fall der Überprüfung.

Eine, aber eben auch nur eine, Aufgabe der Mathematik ist es, Strukturen auf ihre Eigenschaften zu untersuchen. Wichtiger, aber auch interessanter ist es, in verschiedenen Gebieten auf die Suche nach gleichen Strukturen zu gehen. Diese Suche führt oft auf solche - mit allen daraus folgenden Vorteilen - , aber eben oft unerwartet auch auf unterschiedliche Strukturen. Gerade diese Suche führt zu einem wirklichen Verstehen der betrachteten Gebiete.

Auf zwei scheinbar ganz verschiedenen Gebiete der Mathematik zeigen sich Struktur-Gleichheiten, bei der Lösung von Differentialgleichungen und der Lösung algebraischer Gleichungen, was bereits auf S. 19 erwähnt wurde. An einem Beispiel sei dies gezeigt.

Gesucht ist die Lösung der Differentialgleichung
y'' - 5y' + 6y = 0.
Es sei A der Operator, welcher y in y' überführt. Durch zweimalige Anwendung, also durch A2, geht y in y'' über. Ao führt y in sich selbst über.

Diese Operatoren kann man wie Zahlen kombinieren, so dass die Differentialgleichung auch in der Form
(A2 - 5A + 6Ao)y = 0
ausgedrückt werden kann. Da dieselben Regeln wie für Zahlen gelten, ist
A2 - 5a + 6Ao = (A - 2Ao)(A - 3Ao).

Ermittelt werden nun zunächst die Lösungen der aus den einzelnen Faktoren entstehenden Differentialgleichungen.
Bei (A - 2Ao)y = 0 oder
y' - 2y = 0 bzw. y' = 2y erhält man durch Trennung der Variablen die Lösung y = e2x+C1 , entsprechend bei
(A - 3Ao)y = 0
die Lösung y = e3x+C2.

Damit ist y = e2x+C1 + e3x+C2 die volle Lösung der ursprünglichen Differentialgleichung.

Obwohl A2y eine ganz andere Bedeutung hat als (Ay)2, liefert die Zahlenalgebra den Lösungsweg für die Differentialgleichung, weil für die Operatoren dieselben Regeln wie für die Zahlen der Algebra gelten. Dass dies der Fall ist, muss jedoch zunächst nachgewiesen werden, worauf hier verzichtet wurde.

Oben wurden Beispiele dafür vorgestellt, dass in gewissen Fällen auf ganz verschiedenen Gebieten Verknüpfungssymbole vertauscht werden können. Für die Vertauschbarkeit gibt es in der Geometrie Beispiele, von denen eines vorgestellt sei. Geometrische Aussagen gehen so - wie man sagt - in dazu duale Aussagen über. Der "innere" Grund für diese Vertauschbarkeit liegt in der Axiomatisierbarkeit der Geometrie. Diese, von anschaulich orientierten Mathematikern als Tendenz zu "blutleerem Formalismus" kritisiert , führt gerade zu neuen Erkenntnissen.

Hierzu als Beispiel der Satz von Desargues:

Abb. 4

Gegeben sind drei Geraden g1, g2 und g3, die einen Punkt P gemeinsam haben. Auf g1 werden zwei Punkte A1 und B1 gewählt, entsprechend auf g2 A2 und B2, auf g3 A3 und B3.

A1 und A2 liegen auf einer Gerade, B1 und B2 auf einer anderen. Ihr Schnittpunkt sei C3 (der Index erklärt sich daraus, dass hier die Indizes 1 und 2 schon benutzt sind). In derselben Weise wird C2 aus den durch A1 und A3 sowie B1 und B3 bestimmten Geraden gewonnen, C3 aus den durch A2 und A3 sowie B2 und B3 bestimmten Geraden.

Der Satz besagt nun, dass C1, C2 und C3 auf einer Geraden liegen.

Wie hieraus der duale Satz entsteht, lässt sich im Unterricht in der folgenden Weise behandeln:

Man stellt sich vor, ein türkischer Mitschüler habe wegen Krankheit längere Zeit fehlen müssen. Er ist daher mit den deutschen Bezeichnungen geometrischer Begriffe noch nicht genügend vertraut. Trotzdem will der Lehrer ihm nun über Telefon den Satz von Desargues vermitteln. Ihm ist klar, dass der Schüler mit Ausdrücken wie "liegt auf ..." und "ist Schnittpunkt von ..." wahrscheinlich nichts verbindet. Er drückt den Satz daher einfacher aus:

Zu drei Geraden g1, g2 und g3 gehört ein Punkt P. Zu der Geraden g1 gehören zwei Punkte A1 und B1, entsprechend zu g2 A2 und A2, zu g3 A3 und B3.

A1 und A2 gehören zu einer Geraden, B1 und B2 ebenfalls. Zu diesen beiden Geraden gehört Punkt C3. Entsprechend gehören A1 und A3 zu einer Geraden, B1 und B3 zu einer anderen. Zu diesen beiden Geraden gehört Punkt C2. Schließlich gehören A2 und A3 zu einer Geraden, B2 und B3 zu einer anderen, zu diesen gehört Punkt C1.

Der Satz besagt, dass C1, C2 und C3 zu einer Geraden gehören. ,,

Der türkische Schüler fertigt nun nach den telefonischen Anweisungen des Lehrers schrittweise die den geometrischen Zusammenhang. Der Lehrer hat aber folgendes nicht beachtet: Der Schüler hört das Wort Gerade und meint, hiermit sei nokta, das türkische Wort für Punkt, gemeint, und mit Punkt sei dogru, das türkische Wort für Gerade, gemeint. Hierauf gestützt erstellt er die Zeichnung, in der er konsequenterweise seine Punkte mit großen Buchstaben, seine Geraden mit kleinen angibt:

Abb. 5

G1, G2 und G3 sind also auf dem Blatt Punkte, die zu einer Geraden p gehören. Durch Punkt G1 legt er zwei Geraden a1 und b1, entsprechend verfährt er mit G2 und G3.

Zu den Geraden a1 und a2 gehört ein Punkt, ebenso zu b1 und b2. Aus diesen beiden Punkten ergibt sich eine Gerade c3. Entsprechend ergeben sich die Geraden c2 und c1.

Die Zeichnung zeigt dann, dass diese drei Geraden einen Punkt liefern.

Obwohl der Schüler den Sinn der Begriffe Punkt und Gerade verwechselt hat, gibt seine Zeichnung einen richtigen Sachverhalt wieder, den zum Satz von Desargues dualen Satz!

Es sei zugegeben, dass diese Geschichte reichlich konstruiert, fern der schulischen Wirklichkeit, wirken mag. Dennoch beschreibt sie auf anschauliche Weise einen tiefen geometrischen Zusammenhang. Es ist hier nicht der Ort, den Beweis für den Satz von Desargues vorzustellen (bei dem Beweis ist die Mengenterminologie durchaus von Nutzen). Ebenso wenig kann hier dargestellt werden, warum der duale Satz damit auch richtig ist, also keines eigenen Beweises bedarf. Die Begründung hierfür ist - wie erwähnt - ein Beispiel für die Leistungsfähigkeit der Axiomatik.

    
behr-a-r@mail.dk