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  Reinhart Behr:   Leben mit Mathematik - IV Erfahrungen ... -

 Inhalt  Vorwort  I: Rolle der Mathematik  II: Studienjahre  III: Referendariat  IV: Lehrberuf  V: Mathematik im Ruhestand

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IV c)-4-
Die Welle der "Mengenlehre"

Diese Welle erfasste in den sechziger und siebziger Jahren des vorigen Jahrhunderts praktisch alle Schulen. Gemeint ist der Versuch, mathematische Aussagen mit Hilfe der Begriffe Menge und hierauf aufgebauter Begriffe sowie des Begriffes Abbildung bzw. Zuordnung zu formulieren.

Nun gelang es tatsächlich einige Jahrzehnte vorher dem unter dem Namen Bourbaki zusammengefassten Kreis französischer Mathematiker, die gesamte Mathematik durch diese Begriffe als ein Gebäude von Strukturen darzustellen. Diese zeigten Zusammenhänge scheinbar weit verschiedener Gebiete der Mathematik, wovon bereits auf S. 21 ein Beispiel gegeben wurde. So wurde ein wesentlicher Beitrag zur Transparenz der Mathematik geliefert.

Rasch kam es zu der überzogenen Aussage, Mathematik sei nichts als die Menge aller so ausgedrückter Aussagen. Die Mengenterminologie verdeckt geradezu oft den Reichtum vieler mathematischer Erkenntnisse. Sie lässt vergessen, dass alle entscheidenden mathematischen Entdeckungen ohne diese Terminologie gewonnen wurden.

Die Bezeichnung Menge wurde von dem Mathematiker Georg Cantor Ende des 19. Jahrhunderts eingeführt. Warum er dieses Wort wählte, wird kaum reflektiert. Das Wort mengen bedeutet in der Umgangssprache mischen, was aber hier überhaupt nicht vorliegt. Das Substantiv Menge - etwa bei "eine ganze Menge" bedeutet viel, wo dann aber so etwas wie eine leere Menge keinen Sinn hat. (Anm. Es ist immer bedenklich, wenn ein vertrautes Wort in einer Fachsprache eine abweichende Bedeutung erhält. Ein Beispiel aus der Physik: In der Umgangssprache sagt man, jemand wiege 60 kg. Der Physiker kritisiert dies, weil für ihn kg eine Massen- und nicht eine Gewichtseinheit ist.)

Cantor erkannte, dass man die Menge der reellen Zahlen nicht umkehrbar eindeutig - oder, wie man nun sagte - bijektiv der Menge der natürlichen Zahlen zuordnen kann und diese Menge damit - in Cantors Terminologie - eine größere Mächtigkeit besitzt. Hierauf errichtete er ein ganzes Gebäude mathematischer Aussagen. Dieses, und nicht die in den Schulen eingeführte Terminologie erhielt die Bezeichnung Mengenlehre.

Diese Lehre stieß bald auf Kritik, weil sie zu Paradoxien führte, wenn man beliebige Mengen bildete.

Um dies zu vermeiden, beschränkte man sich bei der Bildung von Mengen auf gewisse, etwa Zahlenmengen. Hier entstand nun die Frage: Gibt es eine Zahlenmenge, die mächtiger als die der natürlichen Zahlen, aber weniger mächtig als die der reellen Zahlen ist? Da es nicht gelang, eine solche Menge anzugeben, entstand die Hypothese, es gebe sie nicht. Man sprach von der Kontinuum-Hypothese, weil man die Menge der reellen Zahlen auch als Kontinuum bezeichnet.

Erst nach jahrzehntelanger Bemühung gelang 1963 der Nachweis, dass diese Hypothese weder beweisbar noch widerlegbar ist. Hiermit lag plötzlich in der Zahlentheorie eine Analogie zu einer Situation in der Geometrie vor. Dort war im 19. Jahrhundert der Nachweis gelungen, dass man das Parallelenaxiom von Euklid bei Benutzung seiner übrigen Axiome weder beweisen noch widerlegen kann.

Probleme dieser und verwandter Art kann man nur selten im Schulrahmen behandeln. Dann, aber auch nur dann, kann man von einer Behandlung der Mengenlehre sprechen.

Die Mengenterminologie wurde für die Schule von anspruchsvollen Mathematikern gefordert. Sie bereite die Schüler besser auf das Universitätsstudium mit seiner Terminologie vor, ähnlich wie die "Strenge-Welle". Aber auch Didaktiker befürworteten die Einführung der Mengenterminologie, besonders die als links bezeichneten Befürworter des Gesamtschulgedankens. Diese meinten, sie helfe Schülern ohne Bildungshintergrund aus dem Elternhaus zu besserem Verstehen mathematischer Aussagen. Hatten solche Schüler doch, besonders in der Hauptschule, diese meist einfach "geschluckt"

Interessanterweise befürworteten aber auch eher rechts eingeordnete Bildungspolitiker bisweilen die neue Terminologie. Durch ihren Klarheitsanspruch erziehe sie zu klarerem Denken überhaupt und sei daher ein Mittel, Schüler gegen - wie man meinte - irrationales Gedankengut wie das der Studentenbewegung gefeit zu machen.

Hinzu kam ein Weiteres. 1957 erlebten die USA den "Sputnik-Schock". Dass es der Sowjetunion vor den USA gelungen war, einen Erdsatelliten ( russisch Sputnik = Trabant) zu entwickeln, führte man nicht zuletzt auf den anspruchsvolleren Mathematik-Unterricht dort zurück. Dieser bezog bereits die Mengenterminologie ein. Um ihre rasche Einführung bemühte man sich daher jetzt in den USA. Deutschland, genauer die Bundesrepublik, wollte nicht zurückstehen. Seine Bildungspolitiker waren so rasch für die Einführung der Terminologie auch an den Schulen zu gewinnen.

Die Praxis entsprach nun bei weitem nicht den Erwartungen. Besonders in der Grundschule waren viele Lehrer nach hastiger Einführung in das Neue unsicher und handhabten seine Begriffe deshalb unreflektiert. Zudem konnten Eltern ihren Kindern meist nicht helfen, selbst wenn sie gute Mathematik-Kenntnisse hatten. Denn sie waren ohne die neue Terminologie aufgewachsen.

Hierzu ein Beispiel. Mathematikbücher der Grundschule machen Kinder durch die Zeichnung von "Kullerchen", welche die Kinder farbig ausmalen, mit Mengen und ihren Elementen vertraut. Sie führen dann etwa zu der folgenden "tiefen" Erkenntnis: Gegeben sind zwei endliche Mengen. Wenn diese kein gemeinsames Element haben, oder - in der neuen Terminologie - wenn ihr Durchschnitt leer ist, ist die Anzahl der Elemente der Vereinigungsmenge die Summe der Anzahlen der Elemente der beiden Mengen.

Hier liegt ein völlig unnötiger Aufwand vor, denn kein unbefangener Schüler käme überhaupt auf den Gedanken, die Summe zu bilden, wenn zwei Mengen Gemeinsames haben.

Banale Aufgaben wurden nun in die neue Terminologie gekleidet. Ein Beispiel:
Auf einem Bauernhof sind 12 Ställe mit je 84 Hühnern. Wie viel Hühner sind auf dem Hof?
Diese Aufgabe wurde nun so formuliert:
Die Menge der Hühner auf einem Bauernhof sei /M. /M besteht aus 12 Untermengen, den Hühnerställen. Jede dieser Untermengen hat 84 Elemente. Wie viel Elemente hat ihre Vereinigungsmenge?

Zu mathematischem Verständnis trug dergleichen nichts bei. Ja, schlimmer: Viele Schüler verließen nun die Schule mit der Vorstellung, die Aufgabe der Mathematik sei es, Selbstverständliches aufgeplustert zu formulieren.

Es gab tatsächlich Lehrer, welche in einer wahren Orgie des Formalismus von hier aus die natürlichen Zahlen einführten:

Ausgegangen wird von der leeren Menge, { }. Nachfolger ist die Menge mit dieser als Element, { { } }. Schon diese zu verstehen bereitet den meisten Schülern Schwierigkeiten. Liegt doch hier keine leere Menge vor, denn sie enthält ja ein Element, nämlich die leere Menge! Dieser folgt die Menge mit diesem Element, { { { } } }, usw. In der Tat kann man von diesen Gebilden zeigen, dass sie die Peano-Axiome erfüllen, also die natürlichen Zahlen präsentieren

Aber diese selbst sollten als aus praktischen Bedürfnissen entstanden schrittweise entwickelt werden. Nur so erkennen die Schüler ihr Gewicht. Darauf wurde bereits hingewiesen.

Gymnasiallehrer bewegten sich mit der Mengen-Terminologie auf vertrautem Gebiet. Sie vermieden zumeist ihren exzessiven Gebrauch.

Hier soll keineswegs einer Beseitigung der Mengenterminologie das Wort geredet werden. Es gibt Beispiele, an denen auch die Schüler ihren Nutzen durchaus erkennen, etwa das folgende:

In einer Schule lernen 320 Schüler Fremdsprachen, 210 von ihnen Englisch, 40 ausschließlich Französisch, 20 ausschließlich Latein. Wie viel Schüler lernen Französisch und Latein, aber nicht Englisch? Die Menge der englisch lernenden Schüler wird durch einen Kreis dargestellt, entsprechend für die anderen Sprachen.

Abb. 3
Die Begriffe Durchschnitts- und Vereinigungsmenge sowie Komplementärmenge sind hier gut anschaulich zu verstehen, und leicht findet man: Die Antwort lautet 50.

    
behr-a-r@mail.dk