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  Reinhart Behr:   Leben mit Mathematik - IV Erfahrungen ... -

 Inhalt  Vorwort  I: Rolle der Mathematik  II: Studienjahre  III: Referendariat  IV: Lehrberuf  V: Mathematik im Ruhestand

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noch IV c)-3- Epsilontik

Ist an dem vorherigen Beispiel der Sinn von Epsilontik vermittelbar, so gibt es andere, wo sie für Schüler das Verstehen nur unnötig erschwert. Das gilt etwa bei der Frage: Wann ist eine Funktion stetig? Im Schulrahmen genügt es m. E. zu sagen: Eine Funktion ist stetig, wenn man die sie darstellende Kurve mit einem Stift, ohne abzusetzen, verfolgen kann, und sei es auch nur in Gedanken.

Die strenge Definition der Stetigkeit lautet:
Eine Funktion f ist an einer Stelle x0 stetig,
wenn bei jedem ε > 0 für jede Folge xn mit lim xn = x0 die Folge f(xn) gegen f(x0) strebt.
Dies vielleicht auch noch rein formal ausgedrückt würde die meisten Schüler völlig entmutigen. Darunter wären auch solche, die sonst den Unterricht durchaus bereichern könnten.

Hier ein weiteres Beispiel aus dem Gebiet Folge und Grenzwert. Wird in einer Zahlenfolge, die gegen 2 strebt, jedes Glied etwa mit 3 multipliziert, so entsteht eine neue Folge, deren Grenzwert dreimal so groß ist.

Dies lässt sich natürlich, am besten gleich in allgemeiner Form, durch Epsilontik exakt beweisen. Zu einem solchen Beweis sehen die Schüler - wie ich meine, mit Recht - keine Notwendigkeit.

Auf dem Gebiet der Infinitesimalrechnung bietet die historische Entwicklung des Begriffs Tangentensteigung (und von hier aus des Begriffs Ableitung einer Funktion) eine Gelegenheit zu zeigen, dass man aus einer undeutlichen Vorstellung schließlich zu einer exakten Definition gelangt ist.

Solange noch bei einer Funktion eine Sekante zwischen zwei Punkten der zugehörigen Kurve vorliegt, ist deren Steigung durch den Quotienten aus Ordinaten- und Abszissenzuwachs gegeben. Zunächst wurde nun gesagt, bei unendlich kleinem Abszissenzuwachs gehe die Sekante in eine Tangente über. Deren Steigung sei dann der Quotient der nun unendlich kleinen Zuwächse.

Diese unglückliche Formulierung rief bekanntlich von Anfang an Kritik hervor. Denn was heißt "unendlich klein"? Ist der Zuwachs noch größer als 0, liegt noch keine Tangente vor. Ist er aber 0, lässt sich der Quotient nicht mehr bilden. Mit Recht sagte man, es liege entweder das eine oder das andere vor. Dennoch konnte die Leistungsfähigkeit der mit dem Begriff unendlich klein gewonnenen Resultate nicht bestritten werden.

Nach jahrhundertlanger Bemühung gelang endlich eine exakte Formulierung:

Für jede Folge von Kurvenpunkten, die zum Berührpunkt der Tangente führen, wird jeweils die Steigung der Sekante durch Folgenpunkt und Berührpunkt gebildet. Unter der Steigung der Tangente in deren Berührpunkt versteht man dann den Grenzwert der Folge der vorliegenden Sekantensteigungen (also nicht mehr einen Quotienten!). Gesichert sein muss aber, dass wirklich für jede so gewählte Punktfolge der Grenzwert existiert und dass alle diese Grenzwerte übereinstimmen.



Die Notwendigkeit des letzten Satzes kann für die Schüler nur einsichtig werden durch Wahl einer Funktion wie etwa f(x) = x sin(1/x) für x > 0. Bei x = 0 ist die Funktion nicht definiert. Wenn man jedoch f(0) = 0 festsetzt, ist die Funktion für alle x ≥ 0 definiert (und stetig). Werte x < 0 bleiben hier außer Betracht.

Abb. 2

Möchte man nun eine Tangente in O anlegen, so muss man eine Folge von Punkten Pn mit xn → 0 bilden und die zugehörigen Steigungen der durch diese Punkte und O gehenden Sekanten bilden.

Wählt man als Punktfolge die der Maximalpunkte (mit einem beliebigen beginnend) von rechts nach links wandernd, so erkennt man schon anschaulich, kann aber auch durch Rechnung bestätigen: Die zugehörige Folge der Sekantensteigungen strebt gegen eine Zahl größer als 0. Wählt man hingegen die entsprechende Folge der Minimalpunkte, so strebt die Folge der Sekantensteigungen gegen eine Zahl kleiner als 0. Damit verliert der Begriff Tangente für O seinen Sinn.

Stellt man den Schülern diesen historischen Weg vor und diskutiert mit ihnen Nutzen und Schaden der verschiedenen Formulierungen, so fühlen sie sich ernst genommen. Ja, einige genießen vielleicht sogar das Raffinierte der Auffindung der vorgestellten merkwürdigen Funktion!

Als Mathematik-Lehrer sollte man nicht die Augen davor verschließen, dass experimentelle Physiker und Ingenieure zumeist unbefangen mit äußerst kleinen Größen umgehen und diese je nach Bedarf vernachlässigen. Wann dies ohne Schaden für die Anwendung möglich ist, dafür haben sie ein feines Gespür. Denn aus ihrer Praxis sind sie ständig mit der Frage vertraut: "Was kann ich vernachlässigen?" Ein Beispiel ist der Ausdruck dy/dx den sie wie einen Bruch aus "sehr kleinen" Größen behandeln.

Zusammenfassend sei zur Strenge-Welle festgehalten, dass ihre "Exzesse" vermieden werden sollten. Einige ihrer Ansprüche sollten jedoch beibehalten werden, aber stets so, dass sie für die Schüler als Mittel zu sorgfältigem Denken statt als Abschreckungsmittel erkannt werden.

    
behr-a-r@mail.dk