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  Reinhart Behr:   Leben mit Mathematik - IV Erfahrungen ... -

 Inhalt  Vorwort  I: Rolle der Mathematik  II: Studienjahre  III: Referendariat  IV: Lehrberuf  V: Mathematik im Ruhestand

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IV c)-3-
Die Strenge-Welle

Diese Welle der fünfziger Jahre trägt ihre Bezeichnung nicht ganz zu recht. Streng kann eine Erziehung sein. Was in der Mathematik angestrebt wurde, war jedoch Exaktheit. Dennoch ist es - bezogen auf die Praxis - nicht ganz falsch, von einer Strenge-Welle zu sprechen. Denn nur zu oft wurde durch die ständige Forderung größerer Exaktheit eine Atmosphäre der Angst erzeugt, wie bei strenger Erziehung.

Immer weniger Schüler trauten sich dann eigene Beiträge zu, in der Furcht, diese seien immer noch nicht präzise genug. Die Freude am mathematischen Entdecken ging so verloren und wich einer Entmutigung.

Zunächst fand das Ziel größtmöglicher Exaktheit des Unterrichts meine Sympathie. Erst allmählich erkannte ich, dass volle Exaktheit in einem mathematischen Gebiet erst am Ende seiner Entwicklung steht.

Hätte etwa schon bei den ersten Ansätzen zu infinitesimalem Denken ein drohender Zensor volle Exaktheit gefordert, wäre dieses nie zu seinen Höhen gelangt. Die gesamte Entwicklung der Mathematik zeigt eine ständigen Kampf zwischen fantasiereichen, spekulativen Typen und Genauigkeitsfanatikern, denen wir letztlich gesicherte Erkenntnisse verdanken.

Die Didaktik steht hier vor der Frage: Soll der Schüler einen solchen Prozess nachvollziehen, indem bei ihm auch zunächst Einfallsreichtum ermutigt wird und erst allmählich in ihm der Sinn für den Nutzen exakten Denkens geweckt wird? Oder soll er von Anfang an Mathematik als ein Fach mit größtem Exaktheitsanspruch erleben, um flüchtiges Denken zu verhindern?

Die an der Anthroposophie orientierten Waldorf-Schulen gehen konsequent den ersten Weg. Ihre Lehrer führen in die Mathematik über das künstlerische Gestalten ein. Die Schüler erfreuen sich an geometrischen Mustern, die sie, eigene Ideen liefernd, immer mehr ausbauen. Sie entdecken und erleben Ähnlichkeiten zwischen der Formenvielfalt bei fließendem Wasser und der beim Pflanzenwuchs. Bezüge zu anderen Fächern ergeben sich so auf natürlichem Wege. (Anm. Die das Spielerische, angstfreie Lernen betonenden Waldorf-Schulen waren unter der nationalsozialistischen Herrschaft von Schließung bedroht. Besonders die Erziehung der Jungen wurde als "unmännlich" kritisiert, weil Disziplin und körperliche Anforderungen vernachlässigt würden. Die Schließung wurde jedoch durch Rudolf Hess verhindert. Er war für Esoterisches empfänglich, was nach seinem spektakulären Flug nach England 1941 allgemein bekannt wurde. Hitler erklärte plötzlich, er habe bei ihm seit langem den Einfluss esoterischer Kreise und dadurch einen zunehmenden Realitätsverlust bemerkt. Merkwürdig, dass Heß trotzdem bis dahin Hitlers Stellvertreter sein konnte! )

Zunehmend faszinierten mich Veröffentlichungen über diese Vermittlung von Mathematik. Jedoch blieb mir der anthroposophische Hintergrund mit seiner - wie ich meine - pantheistischen Naturvorstellung fremd. Für diese liegt ein Gestaltungswille der Natur selbst vor, der sich sogar in einer Analogie zwischen dem Menschen und dem ganzen Kosmos zeige.

All dies sollte aber nicht ausschließen, wertvolle, die Entwicklungsstufen des Heranwachsenden berücksichtigende didaktische Erfahrungen der Waldorf-Schulen zu nutzen.




Nicht übersehen werden sollte, dass nicht alle Schüler über die Sinnenwelt Zugang zur Mathematik finden. Es gibt ebenso Schüler, die schon sehr früh Freude und Talent an realitätsfernen, rein abstrakten Überlegungen haben.

Die Strengewelle war im wesentlichen auf die Gymnasien beschränkt. Ihr Ziel war es, schon in der Schulmathematik Maßstäbe des Universitätsstudiums zu setzen. Hierdurch sollte verhindert werden, dass künftige Mathematik-Studenten die Ansprüche der Universität unterschätzten.

Ja mehr noch. Nach Meinung mancher Dozenten sollten junge Leute nur Mathematik studieren, wenn ihnen diese als "die erhabenste Betätigung des menschlichen Geistes" bewusst sei, die "Einfluss auf die Formung edelster menschlicher Eigenschaften" habe. So der bereits erwähnte Mathematiker Helmut Hasse (nach F. L. Bauer in "Mathematisches Kabinett", Deutsches Museum München 1999)

Nun war die Zahl der Abbrecher unter den Mathematik-Studenten zweifellos besonders hoch. Verständlich, dass die Strengewelle die Sympathie konservativer Bildungspolitiker fand. In ihren Augen drängte bereits allgemein eine unberechtigt hohe Zahl wenig Geeigneter in die akademischen Berufe.

Das äußere Merkmal der Strenge-Welle war die sog. Epsilontik. Es war die Bemühung, insbesondere Grenzwerte unmissverständlich zu beschreiben. Dies sei nur durch exakte Größen - gewöhnlich in griechischen Buchstaben wie e und anderen ausgedrückt - möglich.

Ein Beispiel:
Man sagt, die Folge 1, 1+1/2, 1+3/4, 1+4/5, 1+5/6 ...
strebe gegen 2. Was heißt das genau?

Gern wird hier in der Umgangssprache gesagt, die Folgenglieder näherten sich immer mehr der 2, je weiter man sie verfolge. Aber sie nähern sich ja auch z. B. immer mehr der 3, in dem Sinne, dass ein späteres Folgenglied sich weniger von 3 unterscheidet als ein vorangehendes.

Zu einer exakteren Aussage kommt man erst, wenn man sagt: Die Folgenglieder kommen beliebig nahe an 2. Nun ist es nur noch ein kleiner Schritt zu der Aussage: Zu jeder - und damit auch beliebig kleinen - Zahl ε > 0 gibt es ein Folgenglied, von dem ab alle weiteren sich um weniger als ε von 2 unterscheiden.

Bei einem so behutsamen, schrittweisen Vorgehen erkennt der Schüler den Nutzen der "Epsilontik". Die furchteinflößende völlig formale Aussage

∀ε, ε > 0 ∃n, ∀m, m>= n, |f(m) - 2| < ε

sollte man vermeiden, da sie nichts anderes besagt. Solange eine Aussage in Formelsprache auch in der Umgangssprache formulierbar ist - das ist von einem bestimmten Niveau an nicht mehr möglich, wie später behandelt wird - , ist das vorzuziehen. Denn nur so ist ein wirkliches Verstehen gesichert.

    
behr-a-r@mail.dk