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  Reinhart Behr:   Leben mit Mathematik - IV Erfahrungen ... -

 Inhalt  Vorwort  I: Rolle der Mathematik  II: Studienjahre  III: Referendariat  IV: Lehrberuf  V: Mathematik im Ruhestand

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IV c) -2-
Der Mathematik-Unterricht in der DDR

Ein oberflächlicher Blick in Mathematik-Bücher der DDR zeigt scheinbar Parallelen zu denen unter dem Nationalsozialismus. So werden z. B. dieselben Vermessungsaufgaben behandelt, nur ist der Hitlerjunge durch einen Thälmann-Pionier mit seinem charakteristischen Halstuch ersetzt.

Jedoch war das Ziel des Unterrichts ein völlig anderes. Mathematik und Naturwissenschaften erhielten nun einen zentralen Platz, und die Anforderungen waren hoch. Das Erkennen und das Beherrschen der Naturzusammenhänge wurden als unabdingbar zum Verstehen der ideologischen Grundlage der sozialistischen Gesellschaft, des dialektischen Materialismus, angesehen.

In der Praxis war dieser Materialismus nichts weniger als dialektisch, worauf bereits bei der Beschreibung meiner Begegnung mit Martin Hengst während der Seminarausbildung hingewiesen wurde (S. 30). Welche Chance zu einer Vermittlung unserer Naturerkenntnis als eines dialektischen Prozesses wurde in der DDR vertan!

Naturzusammenhänge zeigen sich besonders in der Astronomie. Daher wurde ihr im Unterricht viel Raum gegeben. Zu bedauern ist, dass nun in der zunehmenden Anpassung der Lehrpläne an die Westdeutschlands die Astronomie immer mehr zurücktritt und damit jetzt ein ähnlicher Fehler wie damals in der DDR begangen wird, nun mit umgekehrtem Vorzeichen. Es wird nicht die Chance gesehen, welche in der Vermittlung von Astronomie als eines der Schlüssel zum Verstehen der Entwicklung der Naturwissenschaften liegt!

Die Betonung der Astronomie hatte in der DDR einen weiteren Grund. Sie war geeignet, Respekt vor den Leistungen sowjetischer Raumforscher und -techniker zu vermitteln. Ja mehr noch, sie wurde auch als Mittel zur Erziehung bewusster Atheisten angesehen. Man unterschätzt sicherlich das Niveau dieser Erziehung, wenn man meint, ihr Kern sei die banale Äußerung Juri Gagarins, er habe bei seiner Weltraumreise nirgends Gott gesehen.

Auf einem anderen Gebiet war die Propagierung sowjetischer Ideen geradezu ein Zeichen peinlicher Unterwürfigkeit. Gemeint ist die Betonung der an der Sowjetunion orientierten kollektiven Landwirtschaft. Kaum ein Unterrichtsfach war hiervon verschont. Im Deutsch-, Russisch- und Musik-Unterricht wurden bis zum Überdruss der Schüler Lieder über den "jungen Traktoristen" eingeübt, auch der Mathematik-Unterricht hatte Beispiele aus der kollektiven Landwirtschaft zu liefern.




Da der gesamte Unterricht in der DDR zentralgesteuert war, hatten die Lehrer wenig Spielraum für selbst gestalteten und anderen als lehrerzentrierten Unterricht. Oft hatten sie aber auch nur wenig Interesse daran. Darauf wurde bereits früher hingewiesen.

Lehrer mit eigenen Ideen konnten diese jedoch teilweise an den Pädagogischen Hochschulen erproben, wenn auch nur selten, und nur bei nachgewiesener "Linientreue".

Das in Westdeutschland verbreitete Urteil, der Unterricht in der DDR habe überhaupt keinen Beitrag zur Erziehung selbständig urteilender Menschen geliefert, ist ungerecht. Denn beim Zusammenbruch der DDR lieferten die dort Erzogenen ein fast beschämendes Beispiel von Selbständigkeit. Diese wurde allerdings vielleicht gerade in Abwehr des Oktroyierten gewonnen.

Speziell der Mathematik-Unterricht in der DDR wirft Fragen auf, die kaum zureichend untersucht sind. So die Frage, wie die - auch im Westen nicht bestrittene - Vermittlung mathematischer Fähigkeiten von erstaunlichem Niveau gelang. Dies zudem an der Einheitsschule.

Die Lehrer der DDR hätten zu einer Klärung dieser Frage durch ihre Erfahrung beitragen können. Didaktisch wird deren Potential jedoch kaum genutzt.

Oft wird darauf hingewiesen, dass die Gesamtschule Westdeutschlands, auch auf dem Gebiet des Mathematik-Unterrichts, die in sie gesetzten Erwartungen kaum erfüllt habe. Übersehen wird dabei gern, dass die frühe Trennung von "Gymnasial-Geeigneten" und den anderen die Chancen der Gesamtschule mindern musste.

Das mir vertraute Beispiel Dänemarks zeigt - ebenso wie die PISA-Studie - , dass die gemeinsame Schule für alle bis zum 9. Schuljahr - in den meisten Ländern Europas heute üblich - ein gutes Niveau ermöglichen kann, nicht nur unter einer zentralen Steuerung wie früher in Osteuropa.

Freilich müssen hierzu Voraussetzungen vorliegen, wie ich sie in Dänemark kenne: Kleinere Klassen, ein Minimum an bürokratischer Gängelung und die generelle Akzeptanz dieser Schulform in der Bevölkerung. Keine Partei Dänemarks fordert eine Änderung.

    
behr-a-r@mail.dk