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  Reinhart Behr:   Leben mit Mathematik - IV Erfahrungen ... -

 Inhalt  Vorwort  I: Rolle der Mathematik  II: Studienjahre  III: Referendariat  IV: Lehrberuf  V: Mathematik im Ruhestand

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IV c)-1-
Der Mathematik-Unterricht unter dem Nationalsozialismus

Diese Ideologie versuchte das Gewicht des Mathematik-Unterrichts zu reduzieren. Hauptziel des Unterrichts sei die körperliche Ertüchtigung, die Vermittlung nationaler Werte insbesondere durch den Unterricht in Deutsch und Geschichte sowie die der Rassenideologie in Biologie. Schon äußerlich zeigte sich dies an den Zeugnissen, in denen der Sportunterricht, sogar nach Sparten aufgeschlüsselt, an die erste Stelle rückte.

Zu viel Mathematik würde - so meinte man - zu blutleerem Intellektualismus führen. Oft sprach man sogar direkt von jüdischem Intellektualismus.

Hierzu im Widerspruch stand jedoch die Erkenntnis, mathematisch gut ausgebildete Fachkräfte zu benötigen. Bei der Schilderung meines Studienganges bin ich bereits auf diesen Widerspruch eingegangen,.

Besonders die Schulbücher der Grund- und - wie man damals noch sagte - Volksschule zeigten nationalsozialistischen Einfluss. Praktische Vermessungsaufgaben wurden stets so illustriert, dass ein strammer Hitler-Junge sie ausführte. Rechenaufgaben vermittelten oft in skrupelloser Weise die Ideologie, etwa bei Aufgaben, in denen die Kosten zur Erhaltung Geistesschwacher mit denen zur Ernährung Gesunder verglichen wurden.

Für die Nationalsozialisten war es wichtig, die Sprache von "fremdem" Einfluss zu reinigen. Dieser zeige sich auch an mathematischen Fachausdrücken. Eifrige Sprachpuristen bemühten sich, international übliche Ausdrücke durch "echt deutsche" zu ersetzen. So wurde für sie der Radikand einer Wurzel zum Wurzling, der Wurzelgrad zum Wurzler, Koordinaten hießen nun Punktzeiger, eine Ellipse wurde zu einer Eie.

Der Hamburger Mathematiker Blaschke benutzte diese Ausdrücke z. T. auch noch nach 1945 in seinen Büchern.

Ähnliche Blüten entstanden in der Technik. Eine Lokomotive wurde zur Zieh, ein Motor zum Treibling, ein Benzinmotor zum Zerknall-Treibling. Das Gelächter der Techniker und Ingenieure kann man sich vorstellen. Die Nationalsozialisten waren zwar bar jeden Humors, erkannten jedoch, dass sie zu weit gegangen waren. Auf Empfehlung des Verbandes deutscher Ingenieure zogen sie diese Ausdrücke zurück.

Einige Ausdrücke aus jener Zeit überlebten jedoch. Die Post spricht grundsätzlich von einem Fernsprecher, obwohl jeder im Umgangsdeutsch von einem Telefon spricht. Um 1900 bemühten sich Sprachpuristen bereits, das Wort Telegramm durch Drahtbericht zu ersetzen, jedoch ohne Erfolg.




Die meisten Mathematikbücher der Gymnasien änderten sich kaum. Einige Verlage brachten jedoch Bücher heraus, in denen bei der Behandlung der Kegelschnitte ein ganzes Kapitel der Parabel mit ihrer Anwendung in der Ballistik gewidmet war. Das Ziel wurde bald deutlich: Anwendungsaufgaben behandelten ausschließlich die Berechnungen von Geschossbahnen.

Wegen des engen Bezugs zur Mathematik lohnt ein Blick auf die Physik-Bücher jener Zeit. Eines von ihnen behauptete im Vorwort, deutsche Forscher hätten stets um der Sache selbst willen gearbeitet, während englische sich durch materielle, genauer merkantile Interessen hätten bestimmen lassen.

Man konnte die Relativitätstheorie nicht ignorieren, vermied jedoch jeden Hinweis auf ihren Schöpfer Einstein, weil Jude. Entsprechend wollte ein Lesebuch nicht auf das Lied von der Loreley verzichten, verschwieg aber den Verfasser Heine, weil Jude. Das Lied erhielt den Vermerk "Verfasser unbekannt".

Einsteins Erkenntnisse widersprachen so sehr dem Gewohnten, dass viele die geistige Anstrengung scheuten, die ein Verstehen erforderte. Statt dessen war es leichter, zu Diffamierungen zu greifen, keineswegs nur unter dem Nationalsozialismus.

Der Physiker Philip Frank hat in seiner Biografie Einsteins zusammengestellt, wie seine Relativitätstheorie mit verschiedenstem ideologischem Hintergrund diffamiert wurde:

    - Diese hätte nur ein Deutscher entwickeln können, denn die Deutschen hätten noch lange in tiefen Wäldern gelebt, als in Frankreich schon die Sonne der Vernunft leuchtete (französische Stimmen während des ersten Weltkrieges).

    - Nur ein jüdisches Gehirn könne eine so krankhafte Theorie schaffen (deutsche Antisemiten in den zwanziger Jahren des vorigen Jahrhunderts).

    - Die absurde Theorie spiegele den geistigen Verfall der vor ihrem Untergang stehenden Bourgeoisie (offizielle Äußerungen aus der Sowjetunion unter Stalin).

    - Nur die für den Kommunismus anfälligen Intellektuellen der Ostküste der USA akzeptierten eine solche von jedem gesunden (!) Amerikaner zurückgewiesene Theorie (Stimmen aus dem Mittelwesten der USA nach dem zweiten Weltkrieg, als Einstein atomare Abrüstung forderte).

    
behr-a-r@mail.dk