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  Reinhart Behr:   Leben mit Mathematik - IV Erfahrungen ... -

 Inhalt  Vorwort  I: Rolle der Mathematik  II: Studienjahre  III: Referendariat  IV: Lehrberuf  V: Mathematik im Ruhestand

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IV c)-6-
Der Mathematik-Unterricht unter dem Einfluss des Computers

Maschinen, welche dem Menschen die Rechenarbeit abnehmen, wurden bekanntlich schon vor über dreihundert Jahren gebaut. Sie hatten zahlreiche mechanische Mängel und setzten sich daher lange nicht durch, trotz steigenden Bedarfs im Handel und später in der Industrie

In den dreißiger Jahren des vorigen Jahrhunderts arbeitete mein Vater in einer großen Versicherungsgesellschaft mit Dutzenden von Kollegen in einem riesigen Raum. Ich besuchte ihn einmal dort und sah, wie sie die anfallenden Berechnungen an robusten mechanischen Rechenmaschinen ausführten. Der Vorsitzende saß erhöht, um alle Angestellten im Auge zu haben.

Eine Multiplikation wie 1782.56 wurde folgendermaßen ausgeführt: Die erste Zahl wurde eingegeben, darauf eine Kurbel sechsmal gedreht, dann eine Walze um einen Zahn verstellt und die Kurbel nun fünfmal gedreht.

Solche Tätigkeiten an den vielen Maschinen gleichzeitig führten zu einem dröhnenden Geräusch, vor dem der Vorsitzende durch eine Glaswand geschützt war.

Schrittweise wurden aber schon damals elektrische Rechenmaschinen eingeführt, deren Bauteile elektromagnetische Relais gleich denen in den automatischen Telefonzentralen waren. Ja mehr noch. Lochkarten steuerten bereits zunehmend die erforderlichen Rechenschritte. Für jeden Versicherten erstellte man eine solche Lochkarte. Hierdurch konnten etwa die für eine Police nötigen Rechenschritte automatisch ausgeführt werden.

Solche Lochkarten waren bereits über hundert Jahre vorher bei Webstühlen zur automatischen Herstellung von Stoffen mit verschiedenen Mustern entwickelt worden. Hermann Hollerith stellte als erster Lochkarten zu Berechnungen her. Sie wurden daher nach ihm benannt, und eine Berliner Berufsschule trägt seinen Namen.

Eine der erwähnten rein mechanischen Rechenmaschinen, in den Büros überflüssig geworden, konnte von meinen Schülern lange im Unterricht bewundert werden. Umfangsreiche Rechenaufgaben wurden damals in den Schulen stets mit Rechenstab und Logarithmentafel ausgeführt.

Allmählich gelangten dann die ersten Taschenrechner in die Schulen. Es reizte mich, die Schüler erkennen zu lassen, wie diese einfachste Rechenschritte ausführten. Es galt, den Vorteil der Transistoren gegenüber elektromagnetischen Relais zu zeigen. Aber wie waren diese verknüpft? Die Rechner bearbeiteten die Zahlen im dyadischen System. Dieses war also zunächst zu vermitteln.

Es galt nun zu erarbeiten, wie die Ziffern der Summe zweier Zahlen sich aus denen der Summanden ergeben. Dies ließ sich mit der Aussagenlogik beschreiben und diese wiederum in Schaltalgebra umsetzen. Hierdurch ergab sich schließlich der Schaltkreis für die Ausführung einer Addition.

Technisch besonders interessierte Schüler stellten in einer Arbeitsgemeinschaft eine Maschine mit einem solchen Schaltkreis her. Sie besorgten hierzu Tastaturen von ausrangierten Radios, deren Tasten dann das Eingeben von Zahlen in dyadischer Darstellung ermöglichten. Kleine Glühbirnen zeigten die Ziffern der entstehenden Summe an.

Eine Ziffer der Summe wird nun nicht nur durch die voranstehenden Ziffern der Summanden bestimmt - die ja per Hand durch die Tasten eingegeben werden - , sondern auch durch deren Übertrag. Dieser musste daher ebenfalls einen Schalter in Bewegung setzen. Hierzu wurde ein elektromagnetisches Relais erforderlich, dessen Strom durch einen Magneten diesen Schalter bewegte.

Die nötigen Relais erhielten die Schüler kostenlos durch die Post, welche sie in ihren modernisierten Telefonzentralen nicht mehr benötigte.

Schließlich war die gewaltige Maschine fertig. Sie nahm eine ganze Tischfläche ein und erregte allgemeine Bewunderung, weil sie Zahlen bis zu 210 = 1024 addieren konnte.

Später konnte man billig kleine Transistoren erwerben und hierdurch Addiermaschinen mit erheblich geringerem Aufwand bauen. Dazu kam es aber nicht mehr.

Wie multiplizieren die Taschenrechner? Das konnte ich trotz intensiver Befragung von Kollegen und Fahndung in der Fachliteratur zur Elektronik nicht herausfinden. So kam es also in der Schule nicht zum Bau einer Maschine, die auch multiplizieren konnte.

Damit musste ich eine bittere Tatsache schlucken. Die Schüler bedienten nun mit den Taschenrechnern Geräte, deren Inneres sie nicht verstanden, ebenso wenig wie die Lehrer. Ich träumte immer noch - wie bereits auf S. 23 erwähnt - von der Zeit, in der Schüler Bau und Funktion aller Teile technischer Geräte verstehen konnten. Das galt selbst für so komplizierte Geräte wie Fernseher, jedenfalls im Prinzip.

Das war nun offenbar endgültig vorbei, ja mehr noch. Die Schüler waren überhaupt nicht mehr neugierig auf das, was die neuesten Rechen- und anderen elektronischen Geräte "im Innersten zusammenhält".

Ich beklagte dies in einem Gespräch mit einem Automechaniker. Wussten nicht anfangs die Autofahrer über das Innere der Wagen bescheid und hatten dies nun immer mehr aufgeben müssen? Mir wurde entgegengehalten, dass vor der Erfindung des Autos das natürliche Fortbewegungsmittel, das Pferd, in seinem Inneren vom Reiter ja auch nicht verstanden wurde. Ihm reichte es, dass dieses "funktionierte". So lernte ich, mich vor einer Verklärung der Vergangenheit zu hüten.





Bald kamen erste Computer in die Schulen. Firmen hatten sie gespendet, weil sie zu moderneren Computern übergingen. An ihnen hatte ich - wie wohl die meisten Kollegen meiner Generation - kein Interesse. Das lag z. T. daran, dass ihre Programmierung - im Gegensatz zur nächsten "Generation" schwierig war. Hinzu kam, dass der Umgang mit diesen Computern offenbar keine Kenntnis der Schaltalgebra erforderte. Damit fiel auch ein mathematischer Anreiz fort, den ich zunächst erwartet hatte.

Anders jüngere Kollegen und viele Schüler. Sie verbrachten nach dem Unterricht viele Stunden vor diesen Computern und entwickelten bald großes Geschick, sie so zu programmieren, dass sie selbständig etwa komplizierte, aufeinander aufbauende Rechenschritte bewältigten.

Es war nicht zu bestreiten, dass hierdurch großer Rechenaufwand, etwa bei Näherungsrechnungen, dem Menschen abgenommen wurde.

Dass dies dennoch nicht mein Interesse fand, lag an Folgendem: Wer an einem Computer arbeitete, konnte bei schwierigen Vorgängen seine Schritte oft Außenstehenden nicht begründen. Er arbeitete sich geradezu instinktsicher durch try und errror an das Erforderliche heran.

Gerade Schüler, welche sonst im Mathematik-Unterricht kaum durch besondere Begabung auffielen, erwiesen sich nun oft als besonders tüchtig (wie bereits S. 36 erwähnt). Warum? Müssen wir umlernen und zugeben, dass wir offenbar nicht imstande gewesen waren, ihr Talent im traditionellen Unterricht zu wecken?

Wird die Zukunft allgemein immer mehr denen gehören, welche so wie diese Schüler vorgehen? Ich lasse die Frage offen.

Inzwischen besitze ich selbst einen personal computer, kurz pc, und zwar von der neuesten Sorte. Ich stehe sicher in meiner Generation nicht allein damit, dass ich das Gerät äußerst widerwillig benutze. Es blockiert oft aus mir unbegreiflichen Gründen. Freunde bringen ihn dann bereitwillig wieder in Gang, aber ohne mir ihre Schritte dazu erklären zu können. Ständig neue Ausdrücke erscheinen auf dem Schirm, und mir fehlt die Lust, mich um ein Verstehen zu bemühen.

Hier mag auch eine Rolle spielen, dass die Ausdrücke oft kuriose Mischungen aus Deutsch und Englisch darstellen. Die meisten benutzen diese Ausdrücke nur nach ihrer Funktion, d. h. ohne über den ursprünglichen Sinn der Anglizismen nachzudenken. Das Wort Computer z. B. findet sich bereits in meinem deutsch-englischen Wörterbuch von 1903. Es wird mit Berechner übersetzt.

Entwickle ich nun solche Aversionen, wie sie einst Deutschtümler gegenüber Fremdwörtern hatten? Nur in zwei Ländern sind hier Sprachpuristen auf der Hut. In Frankreich heißt ein Computer ordinateur, d.h. Ordner, und die Verwendung des Wortes Computer ist unzulässig. Ähnlich in Island, wo ein Computer toevler, d. h. Zähler, heißt.

Dass die englische Sprache auf dem Computergebiet so dominant ist, hat sicher einen historischen Grund. Programmgesteuerte Rechenmaschinen wurden im zweiten Weltkrieg etwa zeitgleich in Deutschland sowie in England und den USA entwickelt, Deutschland fiel dann durch den verlorenen Krieg zurück. Nun galt Englisch zudem als modern, weltoffen, schick. Das alles reicht aber wohl zur Erklärung nicht aus. Die englische Sprache bietet durch ihre Struktur Vorteile. Der Fortfall komplizierter Endungen in ihr ermöglicht eine sonst kaum mögliche Flexibilität. Z. B. kann put Verbum sein, aber auch, etwa im Wort input, ein Substantiv. Und wie will man ein Wort wie bit verdeutschen, ohne wie einst beim Zerknalltreibling Gelächter auszulösen?

Ich kann nicht bestreiten, dass ich gegenüber der Welt der Computer jene Haltung entwickle, wie sie für viele alte Menschen immer schon typisch war. Angesichts neuer Technologien haben diese stets einen angeblichen Verlust vertrauter Qualitäten beklagt. So geht es auch mir. Hierzu Beispiele aus der Mathematik.

Zunehmend werden geometrische Zusammenhänge am Computerschirm veranschaulicht. Dieser zeigt etwa ein Dreieck, bei dem von zwei Ecken die Höhen ausgehen. Die dritte Ecke ist durch eine Linie mit der gegenüberliegenden Seite verbunden.

Diese Linie kann man nun wandern lassen, bis auch sie senkrecht auf die Seite stößt. Nun sieht man, dass sich die Dreieckshöhen in einem Punkt schneiden. In den Augen der Schüler ist damit gezeigt, dass offenbar allgemein gilt: Die drei Höhen eines Dreiecks schneiden sich in einem Punkt. Auch viele Lehrer geben sich damit bereits zufrieden.

Man möchte sofort einwenden, der Schirm gebe - unvermeidlicherweise - die Zusammenhänge nur grob wieder, er verschleiere geradezu, dass der behauptete Zusammenhang vielleicht nur angenähert vorliege. Dieser Einwand überzeugt aber immer weniger.

    
behr-a-r@mail.dk