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  Reinhart Behr:   Leben mit Mathematik - IV Erfahrungen ... -

 Inhalt  Vorwort  I: Rolle der Mathematik  II: Studienjahre  III: Referendariat  IV: Lehrberuf  V: Mathematik im Ruhestand

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Ein erstes Beispiel ist die Entdeckung der Fraktale

Vor etwa achtzig Jahren beschäftigte sich der französische Mathematiker Gaston Julia mit einem - so schien es - Randgebiet der Mathematik. Er betrachtete die Iteration an+1 = an2 - 1 im Bereich der komplexen Zahlen. Bei gewissen Ausgangszahlen a0 strebt der Betrag der durch die Iteration entstehenden Zahlenfolge gegen unendlich, bei anderen nicht.

Letztere Zahlen bildeten in der komplexen Ebene ein Gebiet, dessen Rand diffus erschien. Genaueres über diesen Rand ließ sich wegen des dafür zu großen Rechenaufwandes nicht erfahren. Dies wurde erst anders durch die Möglichkeit, riesige Rechnungen schnell mit dem Computer auszuführen.

Der Rand erwies sich nun hier - und bald auch bei ähnlichen Iterationen - als von unerwartet komplizierter Struktur. Ein Zoomen des untersuchten Bereichs zeigte immer wieder komplizierte Strukturen. Es lag damit keine der gewohnten Kurven vor. Bei diesen erwiesen sich ja immer engere Ausschnitte, passend vergrößert, als immer ähnlicher einer Strecke.

Wegen der "Gebrochenheit" solcher Ränder nannte man sie fraktal. Die Untersuchung solcher Fraktale wurde ein eigenes, rasch wachsendes Gebiet der Mathematik. Bald begann man durch dieses Gebiet Vorgänge der Natur, die vorher schwer zu beschreiben und daher oft vernachlässigt worden waren, besser zu verstehen. Es entstand so die sog. Chaos- Theorie. Auf Fraktale und Chaos-Theorie wird im letzten Kapitel näher eingegangen.

Mit den Fraktalen wurden grundsätzliche Fragen zur menschlichen Erkenntnis aufgeworfen. Wir sind es gewohnt, Wahrgenommenes in von der Natur oder vom Menschen nach einer Vorstellung Geschaffenes zu unterteilen. Ein Baum ist ein Naturprodukt, ein Stuhl ein aus einer Vorstellung durch den Menschen geschaffenes Gebilde.

Was sind dann die auf dem Bildschirm entstehenden Fraktale? Sie sind kein Naturprodukt, denn erst die Technik ermöglicht ihr Hervorbringen. Sie sind aber auch nicht durch den Menschen aus einer Vorlage entstanden. Denn ihre Konturen waren selbst für den Mathematiker, der den Rechenprozess startete, völlig überraschend.



- Ein weiteres Beispiel ist das Vierfarbenproblem.

Vor etwa 150 Jahren wurde die Vermutung ausgesprochen, zur Färbung einer beliebigen Landkarte seien vier Farben ausreichend. Verlangt wird dabei, dass zwei Länder mit gemeinsamer Grenze verschiedene Farben aufweisen.

Erst 1976 gelang es Wolfgang Haken und Kenneth Appel, die Richtigkeit der Vermutung zu beweisen. Sie zeigten, dass man statt der unendlich vielen möglichen Landkarten nur etwa 1800 zu untersuchen brauchte. Bei diesen galt es zu zeigen, dass vier Farben ausreichten.

Ein Mensch hätte nun Jahrzehnte zur Überprüfung der 1800 Landkarten benötigt. Diese Arbeit wurde daher von einem Computer übernommen.

Sofort erhob sich Kritik. Konnte man sicher sein, dass der Computer fehlerfrei arbeitete? Tatsächlich wurden Mängel bei dem benutzten Programm entdeckt, dann aber behoben. Konnte man sich darauf verlassen, dass nicht weitere Mängel übersehen wurden?

Generell entstand die Frage, ob ein Beweis überhaupt akzeptierbar sei, wenn er nicht vollständig von einem Menschen geführt wurde. Andererseits: Ist nicht bei einem Menschen die Gefahr eines übersehenen Fehlers sogar größer als bei einem Computer? Schließlich gibt es Beispiele aus der Geschichte der Mathematik, dass in Beweisen erst nach Jahrzehnten Fehler entdeckt wurden. So wurde beim Vierfarbenproblem eine behauptete Lösung erst nach elf Jahren als fehlerhaft erkannt.

Viel tiefer führt die Frage, ob möglicherweise Computer bei bisher offenen Fragen selbst werden Beweise liefern können. Für manche wäre damit eine dem Menschen überlegene Denkfähigkeit bei Computern gezeigt.

Wird man - vielleicht sogar mit Hilfe von Computern - einen Algorithmus entwickeln können, mit dem man jede überhaupt denkbare mathematische Aussage auf ihre Richtigkeit wird überprüfen können? Nach den Arbeiten von Kurt Goedel um 1930 ist dies offenbar prinzipiell nicht möglich.

Einen Vorgeschmack auf Fragen wie diese kann man schon im Schulunterricht liefern. Man kann nämlich z. B. die Beweise dafür besprechen, dass
an + bn = cn
bei n = 3 und n = 4 keine Lösung in natürlichen Zahlen besitzt.

Der Beweis für n = 3 ist nicht für n = 4 analog zu führen. Dort ist ein ganz anderer Lösungsweg nötig. Dies erinnert an die Bemühungen um die Lösung von Gleichungen n. Grades. Der Weg zur Lösung bei n = 2 ist jedem Schüler vertraut. Die Formel für n = 3 erforderte aber einen ganz anderen Lösungsweg, und für n ab 5 gibt es überhaupt keine Lösungsformel mehr.

Die hier berührten Fragen werden im Zusammenhang mit dem Computer nur selten im Unterricht behandelt. Sie könnten vermitteln, dass der Computer für die Mathematik weit mehr als ein Hilfsmittel darstellt.

    
behr-a-r@mail.dk