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  Reinhart Behr:   Leben mit Mathematik - IV Erfahrungen ... -

 Inhalt  Vorwort  I: Rolle der Mathematik  II: Studienjahre  III: Referendariat  IV: Lehrberuf  V: Mathematik im Ruhestand

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noch IV d) Mathematische Zusammenhänge

- Mathematische Zusammenhänge sollten zunächst in der Umgangssprache ausgedrückt werden. Schrittweise sind die Schüler dann mit formalen Ausdrücken vertraut zu machen, wenn sie selbst erkennen: Sie erleichtern den Überblick und so das Verstehen. Das zeigt etwa die folgende Aufgabe.

Ein Vater ist zehnmal so alt wie sein Sohn. In sechs Jahren ist er nur noch viermal so alt wie der Sohn dann. Wie alt sind Vater und Sohn jetzt?

Wir suchen Zahlen, nämlich das Alter des Vaters, kurz AV, und das Alter des Sohnes, AS. Zwei Sätze liegen vor:
1: AV ist zehnmal AS
2: AV + sechs ist viermal AS dann.
Dieses dann wird oft übersehen, der Sohn ist dann auch 6 Jahre älter. Daher lautet dieser Satz besser so:
2: AV + sechs ist viermal (AS + sechs).

Nun werden mehrere Verkürzungen vorgenommen. Die Zahlen lassen sich kürzer im arabischen Ziffernsystem ausdrücken. A ist unnötig, der Punkt bei V und S auch. Mal lässt sich kürzer ausdrücken. Wodurch, ist sekundär. Naheliegend, aber nicht zwingend, ist es, das bereits vorliegende Symbol × zu benutzen, für ist gleich das Symbol "=" :

1: V = 10×S
2: V+6 = 4×(S+6)
Um zunächst S zu finden, drücken wir V in Gleichung 2 durch S aus:
10×S + 6 = 4×(S+6).
Dies führt leicht auf S=3 und damit auf V=30, oder in Worten: Der Sohn ist jetzt drei und der Vater dreißig Jahre alt.

Ein Blick hier auf zwei bekannte Gesetze.

Das kommutative Gesetz der Multiplikation für Zahlen besagt in Worten: Man kann in einem Produkt die Faktoren vertauschen. Dies ist für jeden sofort verständlich. Die formale Schreibweise a×b = b×a ist auch leicht verständlich, wenn man mit dem Sinn der auftretenden Buchstaben vertraut ist. Aber diese Schreibweise bietet noch keinen erkennbaren Vorteil.

Auch das distributive Gesetz für Zahlen lässt sich in der Umgangssprache formulieren: Das Produkt aus der Summe zweier Zahlen und einer dritten Zahl ist gleich der Summe aus dem Produkt des ersten Gliedes und der dritten Zahl und dem Produkt aus dem zweiten Glied und der dritten Zahl.

Dieser Satz ist nur mit Mühe zu verstehen. Die Schüler erkennen den Vorteil der formalen Schreibweise:
(a+b)×c = a×c + b×c .

Hier zeigt sich eine eigentümliche Dialektik: Ein mit der Mathematik noch nicht Vertrauter wird stets die Umgangssprache als leichter auffassen. Je mehr er in die Mathematik eindringt, aber auch nur dann, empfindet er die formale Ausdrucksweise als leichter.

Werden formalisierte Aussagen unnötig früh und unreflektiert eingeführt, werden sie von vielen Schülern nicht verstanden, aber als Voraussetzung für ein Verstehen der Mathematik missdeutet. Sie meinen dann von sich selbst, für die Mathematik seien sie "zu dumm". Der Weg zu einem besseren Verstehen des schönen Gebietes ist ihnen dann versperrt.

Mathematiker bewegen sich oft ausschließlich in der mathematischen Symbolsprache. Damit unterliegen sie einer Gefahr, die bereits Goethe erkannte. Nach ihm könnten sie sich "so sehr auf mathematische Symbole konzentrieren, dass jene Wirklichkeit vergessen wird, für die das mathematische Symbol steht" (Johannes Wickert: Isaak Newton, Serie Piper 1983, S. 19).

Es ist den Schülern zu vermitteln, dass tiefe Zusammenhänge bereits erkannt wurden, als von einer Formalisierung noch keine Rede sein konnte. Ein Beispiel ist die schon in der Antike gewonnene Erkenntnis, dass es unendlich viele Primzahlen gibt.

Es lohnt ein historischer Rückblick mit den Schülern. Erst sehr langsam kam es zu mathematischen Symbolen als ersten Schritten zu einer Formalisierung. Diese entstanden zunächst als Kurzfassung häufig verwendeter Ausdrücke, gleichsam als stenografische Zeichen.

Ein Beispiel ist das Wurzelzeichen: √. Bis vor zweihundert Jahren wurden auch mathematische Abhandlungen in unserem Kulturkreis auf Lateinisch geschrieben. Für Wurzel stand das lateinische Wort radix, das schließlich auf ein r reduziert wurde. Um nun etwa bei r121,49 zu erkennen, dass die Wurzel sich auch auf die 49 bezog, wurde der rechte Bogen des r so weit gedehnt, wie die Wurzel gelten sollte. Damit war das uns vertraute Wurzelsymbol √ gewonnen. Ein anderes Beispiel ist das Symbol π, auf dessen Entstehung bereits eingegangen wurde. Die Mathematik hätte die heutige Höhe nicht erreicht, wenn man sich nicht schließlich ganz von der Umgangssprache gelöst hätte. Das zeigt etwa die auch schon erwähnte Moivresche Formel. Sie konnte nur so gewonnen werden.



- In der Mathematik wurden immer Veränderungen von Größen vorgenommen. Aber erst spät interessierte man sich nicht nur für die Resultate von Veränderungen, sondern für diese Veränderungen selbst. Diese werden durch Funktionen beschrieben.

Diese in ihren Auswirkungen zu verstehen und nicht nur formal zu beherrschen, sollte der Unterricht erreichen.

Wie weit der Unterricht davon entfernt ist, zeigt sich an einem Beispiel wie dem folgenden.

Warmblüter von weniger als 1 cm Körperlänge wären nicht lebensfähig. Warum?

Tiere nehmen Energie durch die Nahrung auf. Die Menge ist proportional dem Volumen der Tiere. Sie geben Energie in Form von Wärme ab. Ihre Menge ist proportional der Körperoberfläche. Selbst wenn den Schülern dies aus der Biologie bekannt ist, können sie oft die Frage nicht beantworten.

Ihnen ist dann nicht bewusst, dass ein Tier mit halber Körperlänge - bei gleichem Körperbau - (1/2)3 = 1/8 des Volumens des Vergleichstieres besitzt und daher auch nur 1/8 der Nahrung aufnimmt, jedoch (1/2)2 = 1/4 der Körperoberfläche besitzt und damit relativ mehr Wärme abstrahlt.

Erheblich anspruchsvoller ist das folgende Beispiel. Ist der Schüler dabei imstande, die Antwort in eigenen Worten zu geben, zeigt er nicht nur die Fähigkeit zum Erkennen mathematischer Zusammenhänge, sondern auch zu ihrer Vermittlung.

Das Beispiel: Warum fallen große Regentropfen schneller als kleine?

Erklärung:
(Hierzu Abb. 6)

Der linke Tropfen erfährt nach seiner Entstehung die Schwerkraft - angedeutet durch den Pfeil - und wird durch sie beschleunigt. Zunächst bewegt er sich noch nicht, erfährt daher noch keine Luftreibung.

Im Bild darunter hat er eine gewisse Geschwindigkeit erreicht und erfährt damit schon eine gewisse Luftreibung entgegen seiner Fallbewegung. An ihm wirkt nun die Schwerkraft gemindert um die nach oben wirkende Luftreibungskraft. Er wird daher immer noch beschleunigt, aber nun weniger stark. Damit nimmt seine Geschwindigkeit weiter zu, aber nun nicht mehr so sehr.

Schließlich - im dritten Bild - ist der Tropfen so schnell, dass die Luftreibungskraft die Schwerkraft aufhebt. Hiernach wird der Tropfen daher nicht mehr schneller.

Der rechte Tropfen hat doppelten Durchmesser, damit achtfaches Volumen und somit auch achtfaches Gewicht. D. h. die Schwerkraft ist achtmal so groß wie beim linken Tropfen. Auch er ruht zunächst, erfährt also noch keine Luftreibung.

Im nächsten Bild hat auch der rechte Tropfen eine gewisse Geschwindigkeit erreicht. Es wirkt also nun die Schwerkraft gemindert um eine gewisse Luftreibungskraft. Die Beschleunigung ist daher - wie beim linken Tropfen - nun geringer. D. h. die Geschwindigkeit nimmt weniger stark zu als vorher.

Wegen des doppelten Durchmessers setzt der rechte Tropfen dem Luftstrom die vierfache Fläche entgegen. Da der Luftwiderstand dieser Fläche - bei gleicher Geschwindigkeit - proportional ist, erfährt er bei Erreichen derselben Geschwindigkeit wie der linke Tropfen (drittes Bild) den vierfachen Luftwiderstand. Da bei ihm aber die Schwerkraft achtmal so groß ist wie beim linken Tropfen, hebt der Luftwiderstand nun die Schwerkraft noch nicht auf. Das ist erst bei größerer Geschwindigkeit der Fall (viertes Bild).

Ein Mathematik-Unterricht wie hier angestrebt hat oft das Etikett sanfter Mathematik-Unterricht. Dies suggeriert bei vielen, dass weniger geistige Anstrengung erwartet werde. Das letzte Beispiel zeigt, wie falsch das ist. Es erfordert durchaus eine große geistige Anstrengung, aber eine, die nicht- wie so oft - in erster Linie der Beherrschung von Formalismen dienen muss.

    
behr-a-r@mail.dk