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  Reinhart Behr:   Leben mit Mathematik - IV Erfahrungen ... -

 Inhalt  Vorwort  I: Rolle der Mathematik  II: Studienjahre  III: Referendariat  IV: Lehrberuf  V: Mathematik im Ruhestand

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noch IV d)
Durch den Funktionsbegriff

gelang es, Veränderungen zu beschreiben und zu vergleichen. Ein wichtiger Schritt bestand dann darin, an einer Funktion den Verlauf der Veränderung zu verfolgen. Wann und mit welchem Ziel das geschah, gilt es zu vermitteln.

Galilei und Newton machten es möglich, über die Geschwindigkeit bei Bewegung unter dem Einfluss der Schwerkraft genaue Aussagen zu machen, obwohl diese sich laufend ändert. Der Begriff Beschleunigung als Maß für Geschwindigkeits-Änderungen entstand.

Die hierbei entwickelte Infinitesimalrechnung gestattete bald, durch den Begriff der Ableitung einer Funktion alle Bewegungen zu erfassen. Durch sie wurden dann die meisten der uns heute vertrauten Gesetze der Physik überhaupt erst möglich. Auf die prinzipiellen Probleme durch die Einführung des Infinitesimalgedankens wurde bereits auf S. 44 eingegangen.

Der neu gewonnene Begriff der Ableitung einer Funktion sollte von den Schülern in seiner Bedeutung verstanden und nicht nur - wie zu oft - lediglich formal beherrscht werden. Deutlich wird dies an einem Beispiel wie dem folgenden.

Von der Winter- bis zur Sommer-Sonnenwende wird die helle Tageszeit laufend länger. Bis zur Tag- und Nachtgleiche geschieht dies laufend immer stärker, dann immer weniger stark.

Trägt man die Dauer der hellen Tageszeit über den Tagen auf und verbindet die Punkte durch eine einfache Kurve, so steigt diese bis zur Sommer-Sonnenwende, die Ableitung der Funktion ist also positiv. Diese Ableitung wächst bis zur Tag- und Nachtgleiche und erreicht dort ihr Maximum. Ihre Ableitung, d. h. die zweite Ableitung der Ausgangsfunktion, beträgt daher dann als Funktion der Zeit 0.

Erst wenn Schüler dies in eigenen Worten beschreiben können, haben sie den Sinn von Ableitung und zweiter Ableitung verstanden.

Welche Verwirrung hier in der Praxis herrscht, zeigt sich oft bei Wirtschaftsnachrichten. Immer wieder erlebt man, dass die Abnahme des Zuwachses einer Produktionsmenge mit der Abnahme der Produktionsmenge selbst verwechselt wird.

- Integrale interessieren die Schüler bei ihrer Anwendung, etwa zur Berechnung von Flächen. Wodurch diese möglich ist, d. h. die approximative Gewinnung eines Integrals aus Untersumme bzw. Obersumme zur Einführung wird als lästig, ja unnötig empfunden.

Das ist anders, wenn man den Schülern durch den Rückblick auf die Entstehung des Integralbegriffs die geistige Leistung bewusst macht, die bei der Gewinnung des Integralbegriffs, aber auch - viel später - bei seiner präzisen Formulierung vorlag.

Mutige Mathematiker begaben sich auf unsicheres Gebiet, als sie Flächen unter einer gegebenen Funktion in schmale, gleiche Streifen zerlegten, die angenähert als Rechtecke anzusehen waren. Es gelte - so behaupteten sie - nur die Inhalte dieser Rechtecke zu ermitteln und zu addieren, sowie dann die Streifen immer schmaler zu machen. Hierdurch erhalte man den Inhalt der gegebenen Fläche, denn zwar begehe man in der Rechnung jeweils einen kleinen Fehler. Dieser verschwinde jedoch, wenn man die Streifen "unendlich" schmal mache.

Das Verfahren bewährte sich offenbar, aber es wurde sofort kritisiert. Denn entweder diese Rechtecke hätten eine Breite größer als 0, dann schöpften sie die gegebene Fläche nicht aus, oder sie hätten die Breite 0 und damit auch den Inhalt 0, führten also nicht zu dem gesuchten Flächeninhalt.

Diese unbefriedigende Situation entspricht der bei der Gewinnung einer Kurvensteigung. Auch hier gelang erst im 19. Jahrhundert eine exakte Formulierung des Zusammenhangs: Es werden immer feinere Zerlegungen vorgenommen und bei jeder die Summe der Rechtecksinhalte ermittelt. So entsteht eine Zahlenfolge. Ihr Grenzwert - er ist selbst keine Summe mehr! - ist dann der gesuchte Inhalt.

Der Lehrer muss einschätzen, ob seine Schüler aus einem strengen Beweis der Existenz eines Flächeninhalts einen Gewinn haben. Dann lässt er Ober- und Untersumme bilden und weist nach, dass deren Differenz gegen 0 strebt.

Von den Schülern wird dies als unnötiger Aufwand betrachtet, wenn man ihnen nicht eine Funktion vorstellt, bei der Ober- und Untersumme durchaus nicht denselben Grenzwert haben. Das ist bei einer genügend "zerfaserten" Funktion wie etwa der folgenden der Fall.

f(x) = 1, wenn x rational ist, aber = 1,1, wenn x irrational ist.

Eine solche Funktion hat den Charakter des Künstlichen. Ähnlich wie bei der Einführung des Ableitungsbegriffs delektieren wohl nur wenige Schüler die hier vorliegende - wie wohl die meisten sagen werden - Gedankenspielerei.



Für Grenzwertbetrachtungen wie diese kann man Schüler sensibilisieren, wenn man den folgenden "Beweis" behandelt.

Scheinbar lässt sich beweisen, dass die Diagonale des Einheitsquadrats die Länge 2 (LE) hat, und zwar so:

(Abb. 7)

Das Quadrat wird in n.n Teilquadrate zerlegt. Der eingezeichnete Treppenweg besteht aus n horizontalen Teilstrecken der Länge 1/n sowie entsprechenden vertikalen. Der Weg hat daher die Länge ×(n×1/n) = 2, und zwar bei jedem n.

Strebt n gegen unendlich, so geht der Treppenweg in die Diagonale über. Auch diese hat daher die Länge 2.

Wo liegt der Fehler? Die Treppenlinie unterscheidet sich zwar bei wachsendem n immer weniger von der Diagonalen, aber jede "Treppenstufe" hat die Länge 2×1/n, ist also länger als der zugehörige Teil der Diagonalen. Die Abweichung strebt aber bei wachsendem n nicht gegen 0!

Zur Gewinnung der Länge einer Kurve wird die Summe der Längen einer Kette von Sehnenstücken gebildet. Dies ist hinsichtlich der gesuchten Größe auch eine Untersumme. Sie müsste eigentlich mit einer Obersumme verglichen werden. Das ist aber schwierig und wird im Schulrahmen stets unterlassen. Verschweigen sollten man diese Unterlassung aber nicht.

Laxheit zeigen Schulbücher auch bei der Gewinnung der Kreisinhaltsformel. Der Inhalt eines Kreises mit Radius r wird in der Regel so gewonnen:

Der Kreis wird in 2n gleiche Sektoren geteilt und seine eine Hälfte kammartig in die andere geschoben.

Abbildung

Hiernach wird die Hälfte eines Randsektors an der gegenüberliegenden Seite angetragen

(Abb.8).

Die oben herausragenden Kreisabschnitte füllen angenähert die Kerben unten aus. Daher liegt in grober Näherung ein Rechteck vor. Es hat die Breite r und als Länge angenähert den halben Kreisumfang, pr. Sein Inhalt beträgt daher angenähert p×r×r = pr2. Dies ist daher auch der Kreisinhalt, und zwar - so wird gesagt - nicht nur angenähert, sondern genau. Denn bei n gegen unendlich strebe der Fehler gegen 0.

Die Begründung ist unzureichend. Denn bei jedem der Sektoren tritt ein Fehler auf. Wie ist gesichert, dass die Summe der Fehler gegen 0 strebt?

Nun ist eine einwandfreie Herleitung der Kreisinhaltsformel schwierig, besonders in der Mittelstufe, wo diese gewonnen wird. Aber der Mangel sollte nicht verschwiegen werden.

Schüler sind mit Recht unzufrieden, wenn einerseits von ihnen hohe Exaktheit verlangt wird, aber andererseits selbst Mathematiker diese bisweilen stillschweigend vermissen lassen.

    
behr-a-r@mail.dk