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  Reinhart Behr:   Leben mit Mathematik - IV Erfahrungen ... -

 Inhalt  Vorwort  I: Rolle der Mathematik  II: Studienjahre  III: Referendariat  IV: Lehrberuf  V: Mathematik im Ruhestand

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noch IV d) Geometrie

- Ein Gebiet der Mathematik eignet sich besonders zur Illustrierung des Erstrebten, die Geometrie. Diese sollte dafür völlig anders als gewohnt vermittelt werden. Das wird starken Widerspruch auslösen, aber hoffentlich auch eine fruchtbare Diskussion.

Der Unterricht sollte dem historischen Weg der Geometrie folgen, bei dem zunächst Handwerksregeln auftraten. Solche werden hier als a) bis e) vorgestellt. Warum gerade diese gewählt wurden, wird später deutlich. Es wird nicht behauptet, dass einst gerade alle diese Regeln auftraten. Sie könnten aber so oder ähnlich gelautet haben. Historische Belege wird man ohnehin für die ersten Handwerksregeln kaum finden.

a) Die Winkel in einem Dreieck bilden zusammen den halben Vollwinkel.
b) Ein Kreis lässt sich durch Zirkelschläge mit seinem Radius in sechs gleiche Teile zerlegen.
c) Der siebte Teile eines Kreisdurchmessers, verzweiundzwanzigfacht, umschließt gerade den Kreis.
d) Bildet man aus einer geschlossenen Schnur mit zwölf Knoten gleichen Abstands ein Dreieck aus drei, vier und fünf Knotenlängen, so ist dieses rechtwinklig, entsteht
e) Dasselbe ist der Fall bei einer Schnur aus einunddreißig Knoten mit einem Dreieck aus sieben, elf und dreizehn Knotenlängen.
f) Hat bei einem Kreis ein einbeschriebenes Dreieck den Durchmesser als eine Seite, so ist es rechtwinklig.
Die Schüler können die Regeln praktisch überprüfen. Es zeigt sich, dass man einige Regeln nicht zu überprüfen braucht, weil sie sich durch reine Überlegung aus anderen ergeben. Das gilt hier für die Regeln b), d) und f). Sie folgen aus a).

Dies führt letztlich zur strengen axiomatischen Geometrie. Diese sollte man aber hier noch vermeiden. Insbesondere das Parallelenaxiom kann von Schülern in seiner Bedeutung nur schwer verstanden werden. Es ist bekanntlich der zugänglicheren Regel a) äquivalent. Diese sollte daher als eine der Ausgangsregeln, aus denen man möglichst viele andere herleiten kann, also als Axiom, benutzt werden.

Die Schüler gewinnen bei ihrer praktischen Arbeit auch eine Vorstellung davon, was in der Praxis eintrat. Mit wachsenden Ansprüchen an Genauigkeit, also bei Benutzung immer feinerer Geräte - etwa beim Pyramidenbau - erwiesen sich einige Regeln als ungenau.

Das gilt hier für die Regel e). Bei ihr liegt statt des rechten Winkels nur ein Winkel von rund 89,73o vor. Diese Abweichung wäre von den Schülern allenfalls an großen, sorgfältig vermessenen Dreiecken zu erkennen. Daher muss man sich wohl zumeist darauf beschränken, den Fehler einfach mitzuteilen. Er wird einst bei Anwendung der Regel - falls diese vorkam - lange nicht entdeckt worden sein.

Ähnlich verhält es sich mit Regel c). Hier muss man den Schülern mitteilen, dass die Regel ungenau ist. Schon in der Antike konnte man den Kreisumfang - wiederum letztlich auf a) gestützt - durch Überlegung so genau abschätzen, dass der Fehler erkannt worden wäre. Er beträgt 0,04 %.

Bei der Gewinnung von d) aus a) wurde eine wichtige Erkenntnis gewonnen. Die Summe der Quadrate der beiden kürzeren Dreiecksseiten ist gleich dem Quadrat der längsten. Diese Erkenntnis hätte sofort den Nachweis der Fehlerhaftigkeit von Regel e) ermöglicht.

Im chinesischen Kulturkreis war auch bereits sehr früh Regel d) bekannt. Zu einer Erkenntnis des hier genannten allgemeinen Zusammenhangs, also zu dem, was wir nun als Beweis bezeichnen, kam es aber offenbar nicht.

Bei Regel b) lohnt ein Hinweis darauf, dass diese offenbar grundlegend für unsere Einteilung des Vollwinkels, nämlich in 360 Grad, war. Auch das Zifferblatt der Uhr geht offenbar darauf zurück.

Es bleibt nun die Frage, ob Regel a) vielleicht auf andere, eher direkt einleuchtende Aussagen zurückgeführt werden kann. Über 2000 Jahre lang bemühte man sich darum.

So entstand die Frage, ob a) überhaupt einer sehr sorgfältigen Überprüfung standhalten würde. Lange wurde angenommen, Gauß habe dies an drei Aussichtspunkten in der Nähe Göttingens untersucht. Inzwischen zweifelt man eher daran.

Durch einen völlig neuen Denkansatz, den man den Schülern nicht vorenthalten sollte, gelang dann der Nachweis, dass a) nicht aus eher einleuchtenden Aussagen herleitbar ist. Denn es ließ sich zeigen: Auch wenn die Winkelsumme in einem Dreieck mehr als den halben Vollwinkel betragen würde, wäre dies mit den übrigen Aussagen vereinbar.

Alle Messungen im gewohnten Rahmen bestätigten Regel a). Es blieb aber immer die Frage, ob nicht vielleicht winzige Abweichungen vom halben Vollwinkel auftreten könnten, die sich bei den bisherigen Messmöglichkeiten nicht zeigten. Könnte nicht an riesigen Dreiecken, im astronomischen Maßstab, eine Abweichung erkennbar sein?

Tatsächlich konnte man auf eine solche bei Beobachtungen bei einer Sonnenfinsternis 1920 schließen. a) gilt also nicht immer.



Es mag auffallen, dass nicht wie hier sonst üblich Begriffe wie Nichteuklidische Geometrie und Allgemeine Relativitätstheorie verwendet werden. Sie sind bei der Einführung durchaus vermeidbar, ja tragen u. U. eher zu einer Verwirrung bei..

Ein Problem tritt hierbei auf. Was ist bei allen hier erwähnten Messungen eine Strecke? Bei den alten Handwerksregeln ist sie durch eine straff gespannte Schnur gegeben. Aber bei höheren Ansprüchen erkannte man, dass diese durch ihre Dicke sowie ihren unvermeidlichen Durchhang zu Ungenauigkeiten führen muss.

Schon in der Antike entstand daher die Idee einer reinen Geometrie mit z. B. Strecken ohne Breite. Hier wir bewusst von einer Idee und nicht von einer Vorstellung gesprochen, denn vorstellen kann man sich solche Strecken gerade nicht! Auf die Spannung zwischen der reinen Geometrie und der Realität wurde bereits eingegangen.

Die reine Geometrie wird im Unterricht zu Unrecht meist als die Geometrie, als etwas Natürliches, vorgestellt. Ihre Begriffe sollten jedoch behutsam eingeführt und in ihrer Spannung zur Realität reflektiert werden.

So gilt es zu reflektieren, was in der Realität eine Strecke ist, wenn eine Schnur sie nicht liefert. Es besteht heute Konsens, Strecken als repräsentiert durch den Weg von Lichtstrahlen zwischen zwei Punkten anzunehmen.

So geschah es auch bei der erwähnten astronomischen Messung. Die Lichtwege zwischen der Erde und zwei bestimmten Fixsternen bilden ein die Sonne einschließendes Dreieck, bei dem die Winkelsumme vom halben Vollwinkel abweicht.

Schulbücher sind hier - sofern sie das Thema überhaupt behandeln - meist unkorrekt. Nach ihnen wird das Licht durch die Sonne von seiner geraden Bahn abgelenkt. Das ist aber nicht möglich, da man ja Geradlinigkeit durch Lichtwege definiert!

Die korrekte Aussage ist die der Allgemeinen Relativitätstheorie, dass nicht das Licht hier die gerade Bahn verlässt, sondern dass durch den Einfluss der Sonne die Geometrie ihrer Umgebung sich so ändert, dass a) nicht mehr gilt. Dies ist im Unterricht sicher nur in Ausnahmefällen zu vermitteln.

- In der Vorstellung von Schülern sitzen die Mathematiker hoch in ihrem Olymp, erhaben über den Kampf der Meinungen. Denn wenn überhaupt ein Gebiet, dann handelt doch die Mathematik nur von unbestreitbaren Fakten.

Da lohnt ein Einblick darin, dass selbst in der Mathematik Meinung gegen Meinung stehen kann. Die hier meist benutzte meta-mathematische Terminologie ist dabei zu vermeiden. Das folgende Beispiel eignet sich hier besonders.

Gibt es reelle, irrationale Zahlen a und b, so dass ab rational ist?

Die Antwort lautet ja. Zum Beweis wählt man a = √2 und b = √2. Ob dann ab = (√2)√2 rational ist, kann man hier nicht erkennen. Aber es gibt ja nur die zwei Möglichkeiten.

Entweder dieser Ausdruck ist rational. Dann ist die Behauptung bewiesen.

Oder das ist nicht der Fall. Dann nimmt man eine Bezeichnungsänderung vor und nennt nun (√2)√2 a. Aber b bleibt √2.

Nun ist
ab = ( (√2)√2)√2 = (√2)√2√2 = (√2)2 = 2,
also auch hier ab rational, wie verlangt.

Dieser Beweis wird nicht von allen Mathematikern akzeptiert. Denn er liefert ja überhaupt keine konkreten Zahlen mit den verlangten Eigenschaften!

    
behr-a-r@mail.dk