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  Reinhart Behr:   Leben mit Mathematik - V ... im Ruhestand. -

 Inhalt  Vorwort  I: Rolle der Mathematik  II: Studienjahre  III: Referendariat  IV: Lehrberuf  V: Mathematik im Ruhestand

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Neue Möglichkeiten: Publikationen und Vortragstätigkeit

Da kam mir ein Zufall zuhilfe. Ich hatte entdeckt, dass die Mathematik der Fraktale rasch steigendes Interesse fand. Gefördert wurde dieses durch die Möglichkeit, ihre faszinierenden Bilder auf einem Computerschirm wiederzugeben, ja sogar selbst zu variieren.

Es gab aber offenbar noch kein Buch, das dieses neue Gebiet Schülern und - wie man gern sagt - gebildeten Laien vermittelt. Die vorhandenen Bücher hatten eher Universitätsniveau.

Allenfalls gab es Autoren, welche über Fraktale und ihre angebliche Auswirkung auf die Haltung zu Naturwissenschaft und Philosophie schrieben, oft eher sensationshaschend als informativ. Eine Erklärung, was Fraktale überhaupt seien, lieferten sie nicht.

Da erwachte wieder mein didaktischer Ehrgeiz. Ich verfasste ein Buch über Fraktale auf Schulniveau, "Ein Weg zur fraktalen Geometrie" (s. Anhang 1).

Der Titel war vom Verlag vorgeschlagen worden. Mir widerstrebte er, denn eine Geometrie kann z. B. analytisch sein, aber nicht fraktal. Es handelte sich vielmehr um die Geometrie der Fraktale. Aber für derartige Feinheiten hatte der Verlag keinen Sinn, und ich resignierte.

Meine Erwartungen wurden durch die starke, immer noch anhaltende positive Resonanz auf das Buch übertroffen, und es kam zu einer Kette von Einladungen zu Vorträgen vor Lehrern, Didaktik-Fachleuten, aber auch Schülern. Insgesamt wurden es 31 Vorträge. Diese und sich daraus ergebende Diskussionen und Kontakte ließen mich die Trennung von meinen Schülern leichter verschmerzen.

Die Einladungen kamen aus den verschiedensten Teilen Deutschlands, seltener aus dem von mir für den Ruhestand gewählten Land, Dänemark. Dies erklärt sich wohl aus der Sprachbarriere für Dänen. Sie sind mit Publikationen auf Englisch vertraut, aber fast überhaupt nicht auf Deutsch. Vor dem zweiten Weltkrieg war das anders, Beschäftigung mit deutscher Sprache und Kultur geradezu ein Kennzeichen von Bildung. Deutsche Arroganz, kulminierend im Nationalsozialismus und der Besetzung Dänemarks, hat dies zum Erliegen gebracht.

Aus einem der wenigen Vorträge in Dänemark, und zwar einem vor Gymnasiasten, ist mir ein Vorfall in Erinnerung. Ich hatte an der Tafel einen Winkel gezeichnet und auf seine Schenkel hingewiesen, was verstecktes Kichern auslöste. Nach dem Vortrag fragte ich einen der dänischen Lehrer nach dem Grund dafür und erfuhr, dass man im Dänischen von den Beinen eines Winkels spricht. Das Wort Schenkel löste daher pubertäre Reaktionen aus.

Bei der Abfassung des Buches zeigte ich das, was im Jiddischen Chuzpe heisst und mit "freche Anmaßung" nur teilweise beschreibbar ist. Jüngere kennen dieses Wort kaum mehr.

Ich hatte nämlich keinen Computer, konnte mit einem solchen nicht einmal umgehen. Mir war aber klar, dass die entscheidenden Einsichten in die Welt der Fraktale am Computer gewonnen worden waren. Für die Erstellung der Computer-Bilder des Buches, ja für ein eigenes Kapitel, das Anleitungen zur Erstellung von solchen Bildern, war mir jedoch mein Kollege aus der Zeit an der Schule, Wolfgang Krugel, eine unschätzbare Hilfe, ebenso wie der Lektor des herausgebenden Verlages, René Rößing. Dieser wurde dadurch zu einem langjährigen Freund und Berater.

Das Buch schrieb ich auf einer kiloschweren Schreibmaschine Baujahr 1930, die unverwüstlich ist und mir noch heute bisweilen dient. Einschübe im Manuskript erforderten Schere und "literweise" Leim. Inzwischen begreife ich Vorteile - aber auch Nachteile! - bei der Arbeit am Computer als Schreibgerät und benutze dieses zumeist.

Bei den Fraktalen spielt der Begriff Selbstähnlichkeit eine wichtige Rolle. Eine Figur heißt selbstähnlich, wenn ein Teil von ihr, genügend vergrößert, mit der Gesamtfigur identisch ist.

Dies erinnerte mich an mein erstes Erlebnis mit Selbstähnlichkeit als Fünfjähriger, natürlich ohne Kenntnis dieses Begriffes. Eine Tante hatte mir eine Schachtel Hustenbonbons geschenkt. Auf dieser entdeckte ich das Bild eines kleinen Jungen mit gerade dieser Schachtel in Händen. Auf dieser war konsequenterweise der Junge mit der Schachtel in Händen abgebildet, ... Das fesselte mich so, dass ich es bis heute nicht vergessen habe.

Obwohl hier in Dänemark mitten in schöner Natur lebend, hatte ich diese nur selten bewusst wahrgenommen. Das wurde nun anders. Ich entdeckte nämlich in Garten, Wald und Flur in der Pflanzenwelt spiralige Muster von - angenäherter - Selbstähnlichkeit. Beispiele dafür zeigten sich an den Zapfen von Nadelbäumen und an vielen Blüten, am eindrucksvollsten an denen der Sonnenblume. Selbst so winzige Blüten wie die des Rainfarns zeigten diese, wenn man sie mit der Lupe betrachtete.

In einem etwa zwanzig Kilometer entfernten Schlosspark hatte ich an den Köpfen einer Distelart besonders schöne Beispiele entdeckt. Ich beschloss daher, den Park wieder aufzusuchen und einen der Köpfe zu entwenden. Ich fuhr per Rad dorthin, denn inzwischen hatte ich - wenn auch mit viel Beschwer - das Radfahren gelernt (s. S. 21 hierzu). Da die Pflanze bekanntlich sehr spitze Stacheln hat, brauchte ich Lederhandschuhe und eine kleine Schere zu der "kriminellen" Tat. Wieder zuhause, wies mich meine Frau darauf hin, dass wir gerade diese Pflanze selbst im Garten hatten! Meine Fähigkeit zur Naturbeobachtung war also offenbar sehr selektiv.

Die Untersuchungen an Pflanzen resultierten in einem ersten Aufsatz. Er erschien in der hauptsächlich von Gymnasiallehrern gelesenen Zeitschrift "Der mathematische und naturwissenschaftliche Unterricht" (s. Anhang 2).

Ermutigt durch die Resonanz des erwähnten Buches über Fraktale schrieb ich nun ein zweites hierüber, "Fraktale - Formen in Mathematik und Natur". In ihm verarbeitete ich auch die gewonnenen Erfahrungen. Der erwähnte René Rößing stattete das Buch mit eindrucksvollen eigenen Fotos aus der Natur aus.

Trotz durchgängig positiver Kritiken erfuhr dieses Buch nicht dieselbe Resonanz wie mein erstes.

Nun folgte eine ganze Reihe von Aufsätzen in verschiedenen Zeitschriften der Schulmathematik. Sie lieferten meist mathematische Beiträge für den Unterricht, z. T. aber auch didaktische Anregungen und Kritiken, in denen sich bereits meine im letzten Kapitel vorgestellten Bestrebungen zeigten.

Mich interessierte ein Thema, das vorübergehend Interesse weit über die Mathematik hinaus fand, die sog. magischen Bilder. Man konnte diese an jedem Kiosk erwerben. Bei passender Betrachtung, die vielen allerdings nur schwer gelang, zeigten sie das Abgebildete gleichsam im Raum.

Mein Aufsatz "Magische Bilder" in der Zeitschrift "Praxis der Naturwissenschaften - Physik" (Anm. 9) lieferte für den Eindruck eine Erklärung, die auch von Laien nachvollzogen werden konnte.

Der Aufsatz hatte das Interesse der Redakteure der wissenschaftlichen Zeitschrift "Naturwissenschaftliche Rundschau" gefunden. Sie veranlassten mich, auch dort meine Erklärung vorzustellen (Anm. 10). Offenbar entsprach sie trotz der Allgemeinverständlichkeit wissenschaftlichem Anspruch. Meine didaktische Tendenz konnte so nur bestärkt werden.

Nur ein Aufsatz stellte eine mathematische Entdeckung von mir vor. Diese, eher bescheidener Art, sei hier angedeutet. Siehe unter Aufsätze.

Sicher durch die Mathematik der Fraktale ausgelöst, fanden die verschiedensten Iterationen an Zahlen das allgemeine Interesse von Mathematiklehrern. Nur zu verständlich, da diese leicht von den Schülern in Eigenarbeit zu verfolgen waren und oft zu überraschenden Resultaten führten. Von solchen Iterationen handelte das Thema des Aufsatzes:

Ein gewisser Satz enthält natürliche Zahlen. Diese kann man selbst willkürlich wählen, wobei sich dann der Satz i. a. als falsch erweist.. Durch eine einfache Iterationsvorschrift geht er nach mehreren Schritten "von selbst" in einen richtigen Satz über, mit einer bestimmten Ausnahme.

Gilt dies nun wirklich immer? Durch Überprüfen von immer neuen Beispielen lässt sich dies natürlich nicht klären. Mir gelang nun der Nachweis, dass man "nur" 176.358 Fälle zu überprüfen brauchte. Dies konnte ein Computer leisten, wofür mir wiederum René Rößing behilflich war.

Der Nachweis gelang durch Heranziehung eines gänzlich anderen Gebietes der Mathematik, der Geometrie der Gitterpunkte im n-dimensionalen Raum.

Das Vorgehen erinnert an die Lösung des Vierfarbenproblems (s. S. 64). Auch dort wurde die Fülle der zu untersuchenden Möglichkeiten auf eine endliche Zahl reduziert, die von einem Computer behandelt werden konnte. Der Aufwand war jedoch - wie erwähnt - so groß, dass der Beweis Probleme aufwarf.

Es liegt die Frage nahe, warum ich nicht bereits während der Zeit an der Schule publizierte oder gar mathematisch "forschte". Es wäre - besonders in den Ferien - durchaus Zeit hierzu vorhanden gewesen. Aber diese Zeit wurde - wie bei den Kollegen - zum "Auftanken" für die oft so kräftezehrende Arbeit in der Schule gebraucht.

Allerdings wirkte ich auch schon ab 1978 für einige Jahre, vom Unterricht teilweise entlastet, mit engagierten Kollegen in einer Planungsgruppe (im modernen Sprachgebrauch in einem Team, in der DDR-Sprache in einem Kollektiv).

Unsere Aufgabe war es, Lehrpläne für die damals in Westberlin gerade entstandenen berufsbezogenen Oberstufenzentren zu entwerfen. Diese griffen Reformgedanken der zwanziger Jahre auf, indem sie auf praktische Berufe mit dem Ziel einer Gesellenprüfung vorbereiteten, aber gleichzeitig die Möglichkeit des Abiturs boten.

Daher war es unsere Aufgabe, etwa für künftige "Metaller" in Mathematik Lehrpläne zu entwerfen, die an deren Erfahrungswelt anknüpften und dennoch dem Niveau des Gymnasiums entsprachen. Dies war eine reizvolle didaktische Aufgabe.

Leider wurden die Pläne nur wenige Jahre in der Praxis erprobt. Dann änderte sich der bildungspolitische Kurs, man kehrte zu den getrennten Ausbildungen zurück, und unsere Pläne endeten in den Archiven der Verwaltung.

Eine Erinnerung aus jener Zeit: Unsere Arbeitsgruppe hatte ein holländisches Buch über die Differentialrechnung entdeckt, das diese anschaulich, direkt aus der Erfahrungswelt junger Menschen entwickelte. Ich übersetzte das Buch ins Deutsche, behielt aber die in Holland übliche Anrede du für Schüler bei. Die Verwaltung machte die Genehmigung des Buches für den Schulgebrauch davon abhängig, dass ich die Anrede durch Sie ersetze. Ich schlug vor, stattdessen im Vorwort kurz zu bemerken, dass die Anrede du beibehalten werde, da in Holland üblich. Damit drang ich nicht durch, musste also - vor Einführung des Computers! - viele Stunden mit der Änderung der Anrede, die nun mehr Platz einnahm, verbringen.
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Anmerkung
Das erinnerte mich an die Novelle "Dr. Murkes gesammeltes Schweigen" von Heinrich Böll. In dieser wurde eine auf Band genommener Radiolesung beschrieben. Sie enthielt mehrmals das Wort Gott auf. Dieses sollte nun durch jenes göttliche Wesen, das wir verehren ersetzt werden. Der Sprecher trennte das Wort Gott an allen Stellen aus dem Band und wollte es durch die gewünschte Wendung ersetzen. Hierbei musste er aber beachten, dass die Wendung verschiedene Form erhielt, je nachdem, in welchem Kasus sie auftauchte. Es galt also mehrere Formen zu sprechen und an den jeweiligen Stellen einzufügen.

    
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