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  Reinhart Behr:   Leben mit Mathematik - V ... im Ruhestand. -

 Inhalt  Vorwort  I: Rolle der Mathematik  II: Studienjahre  III: Referendariat  IV: Lehrberuf  V: Mathematik im Ruhestand

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noch V Ruhestand

Was kennzeichnet die Mathematik und die Stellung des Menschen zu ihr?

Bisher wurde beschrieben, wie die Mathematik meinen Lebensweg geprägt hat. Danach liegt es nahe, weiter zu reflektieren. Was kennzeichnet eigentlich dieses Gebiet, und wie kann man allgemein die Beschäftigung mit ihm unter den menschlichen Tätigkeiten einordnen?

Ich vergleiche die Mathematik gern mit einer Insel, die man schon vor langer Zeit entdeckt hat. Man ist die Insel von verschiedenen Seiten her angelaufen und hat bereits vieles an ihr entdeckt. Aber durch immer neue, selbst jüngste Entdeckungen wurde deutlich, dass noch vieles, ja vielleicht sogar das meiste von ihr noch unerforscht ist.

Immer von neuem haben Menschen Schneisen gebahnt, sind bisweilen in ein Höhlensystem mit zahlreichen Verzweigungen geraten, sind hierbei in Sackgassen gelandet, haben aber auch plötzlich Höhlen riesigen Ausmaßes entdeckt, deren Tiefen oft noch gar nicht ausgelotet sind.

Bergsteiger erklimmen immer neue Berge, entwickeln dazu ständig neue Hilfsmittel. Sie werden dann auf den Gipfeln durch die Entdeckerfreude und einen weiten Blick belohnt, der die Konturen der Insel allmählich immer deutlicher zeigt.

Es ist unschwer, Analogien in der mathematischen Forschung zu erkennen. Manche Bergsteiger scheuen keine Mühe, um vor anderen einen Gipfel zu erreichen oder einen Weg zu finden. Mathematiker sind darin oft nicht anders. Anschaulich ist das in dem auf S. 16 in Fußnote 3 angeführten Buch beschrieben.

Aber so verlockend auch der Vergleich mit der Entdeckung einer Insel erscheint, so hat dieser doch seine Grenzen. Eine Insel kann ihr Gesicht ändern, sei es durch geologische Aktivität, durch Klimaänderungen oder die Aktivität des Menschen.

Die Mathematik bleibt jedoch immer dieselbe, sie ist zeitunabhängig. Auf der Insel kann man gewaltsame Veränderungen vornehmen, etwa zur Abkürzung von Wegen Tunnel bauen. In der Mathematik hilft Gewalt nicht weiter.

Der Vergleich des Mathematikers mit einem Entdeckungsreisenden lenkt nun den Blick auf die Frage, was allgemein mathematische Arbeit unter den menschlichen Tätigkeiten kennzeichnet.

Hierzu eine grobe, ohne Frage verbesserungsbedürftige Auflistung. Manchen mag sie befremden, und er wird ausrufen: "Typisch für einen Mathematiker!"

Wir teilen die Welt in zwei große Bereiche, den materiellen und den nichtmateriellen. Dieser wiederum besteht aus dem vom Menschen Entworfenen, also dem Bereich der Phantasie, und dem Vorfindbaren, dem der Mathematik.

Es gibt nun für den Menschen die folgenden Möglichkeiten.

   - Er wirkt auf den materiellen Bereich ein, und zwar ohne Benutzung von Mitteln aus dem nichtmateriellen Bereich: Der Arbeiter.
  - Er wirkt auf den materiellen Bereich ein, aber mit Benutzung von Mitteln aus dem nichtmateriellen Bereich, und zwar nach einem Entwurf: Der Handwerker, der Baumeister, der Ingenieur, der Bildhauer.
   - Er wirkt nicht (bzw. kaum) auf den materiellen Bereich ein, indem er ihn nur untersucht: Der Entdeckungsreisende (sein Gebiet ist das nahe Wahrnehmbare), der Astronom (sein Gebiet ist das ferne Wahrnehmbare), der Naturwissenschaftler (sein Gebiet ist alles Wahrnehmbare).
   - Er ändert seine Position mit einem Ziel im materiellen Bereich, auch praktisch ohne auf diesen selbst einzuwirken: Der Wanderer, allgemein der Reisende.
  - Er wirkt fast nur im nichtmateriellen Bereich, indem er das dort Vorfindbare untersucht: Dies ist vor allem der Mathematiker.
   - Er wirkt fast nur im nichtmateriellen Bereich durch von ihm Entworfenes: Der Künstler. Eine Ausnahme hierbei ist der - oben genannte - Bildhauer. Er wirkt auf den materiellen Bereich ein, indem er in ihm gestaltet.
  - Er bewegt sich im materiellen Bereich nach einem Entwurf, aber fast ohne Einwirkung auf diesen und ohne Positionsänderung: Der Bodybuilder.
  - Er bewegt sich im materiellen Bereich nach einem Entwurf, aber mit Positionsänderung. Dieses geschieht ohne ein Ziel im materiellen Bereich: Der Läufer, der Schwimmer, der Bergsteiger.

Man wird - sicher mit Recht - Menschen mit vielen anderen Tätigkeiten in dieser Auflistung vermissen. Nur einer sei hier noch erwähnt, der Altphilologe.

Wie beim Mathematiker gilt für ihn: Er wirkt fast nur im nichtmateriellen Bereich, indem er Vorfindbares untersucht. Das sind für ihn die alten Sprachen. Aber - anders als der Mathematiker - ist er ganz von Materiellem für seine Tätigkeit abhängig, nämlich alten Büchern als Quellen.

Ein Mangel der Auflistung besteht wohl auch darin, dass das Materielle nicht differenziert wird. Eine spezielle Betrachtung ist nämlich der Bezug zur lebenden Materie wert. Dieser sei hier kurz berührt.

Der Mensch erfährt die lebende Materie - unter anderem! -    - in der körperlichen Liebe
   - im Kampf (mit dem Ziel des Sich-Behauptens oder des Siegens, aber auch mit der Erfahrung der Niederlage), symbolisiert im Sport
  - im Mitfühlen (mit einem anderen Menschen, einer Gruppe, den Menschen überhaupt, mit Tieren).

Kein Mensch kann ausschließlich einem dieser Verhaltensweisen zugeordnet werden, sie überlappen sich in verschiedenem Maße.

Bei der Einordnung des Mathematikers steht jedoch die Begegnung mit dem nichtmateriellen Bereich im Vordergrund. Was bei der Begegnung mit dem materiellen Bereich von Nutzen sein kann, etwa körperliche Kraft, hilft ihm nicht. Sein Gegenüber ist ohne Gefühl, also damit auch etwa durch Wut oder Enttäuschung, überhaupt durch die ganze Skala seiner eigenen möglichen Gefühle unbeeinflussbar. Jeder, für den das lebendige Gegenüber zur Gestaltung seines Lebens im Vordergrund steht, wählt daher nicht den Weg des Mathematikers.

Der Außenstehende hätte jedoch ein falsches Bild vom Mathematiker, wenn er ihm bei seiner Arbeit Gefühle abspräche. Der Mathematiker kann ihm nur schwer vermitteln, welches Glücksgefühl ihn bei einer mathematischen Entdeckung überkommen kann.

Er wird auch gern darauf hinweisen, wie geringer materieller Hilfsmittel er für sein Tun bedarf, oft nur "Bleistift und Papier". Auch wissen wir von Mathematikern, denen ihre Forschung ein Mittel zum Überstehen von extrem belastenden äußeren Bedingungen wie etwa Gefangenschaft oder bei körperlichen oder psychische Krisen war. Blaise Pascal etwa konnte sich durch mathematisches Arbeiten von starken Zahnschmerzen ablenken.

    
behr-a-r@mail.dk